Die Wahrheit: Hippe Omapraline für Klimaschlecker

Süßer Ungehorsam gegen alte weiße Männer: Die Klebe-Generation M protestiert neuerdings gegen alles und jeden mit Retro-Schokokitsch.

Praline vor roten Lippen

Ironische Kombi süß und sexy in einem Bild Foto: Reuters

Anfang September vergangenen Jahres bildeten sich endlose Schlangen vor deutschen Verbrauchermärkten und Discountern. Wer nachfragte, wofür die ausnahmslos jungen Menschen dort anstünden, konnte aus der brodelnden Menge die aufgeregten Worte „Sommerpause vorbei!“, „Endlich wieder Mon Chéri“ und „Nieder mit den alten weißen Männern!“ vernehmen. Dank des allgegenwärtigen Phänomens begriff die deutsche Öffentlichkeit, dass es der Firma Ferrero gelungen war, mit ihren angestaubten Billig­pralinen bei einer jungen hippen Zielgruppe zu landen – und den Halbwüchsigen eine neue Wunderwaffe im Krieg der Generationen zu verschaffen.

Denn Zahlen belegen: Innerhalb weniger Jahre haben sich die Umsätze der früheren Omi-Praline vervierfacht. Die neue Kundschaft stört sich nicht mehr daran, dass die sogenannte Piemontkirsche einzig in der Werbung existiert – im Gegenteil. Die traditionelle Industriesüßigkeit aus der Nachkriegszeit scheint paradoxerweise den Nerv einer Jugend zu treffen, die den ökologisch blinden Vorgängergenerationen die Botschaft vermitteln will, dass es so nicht weitergehen kann.

Dazu ist ihr jedes Mittel recht. Einen vergleichbaren Höhenflug erlebt zur Zeit nämlich auch die berüchtigte Merci-Schokolade aus dem Hause Storck. Die gefühlig beworbene Süßware ist zum zweiten Mal hintereinander zur beliebtesten Schokospezialität bei den 14- bis 24-jährigen gewählt worden. Auf Platz zwei knapp dahinter: Mon Chéri, das Fließbandkonfekt aus der Nutella-Schmiede. Aber woher kommt die Begeisterung der heutigen Heranwachsenden für die Massenware aus der Vergangenheit? Da betagte Konsumenten mit Geld und Geschmack dem billigen Naschwerk schon seit Jahren fernblieben, galten beide Produkte als beinahe ausgestorben.

Doch die ungehaltene Generation Z zeigt den Alten und Reichen ihren schokobeschmierten Stinkefinger und futtert das Zeug palettenweise weg. „Wer sagt, dass ich Merci und Mon Chéri nicht darf? / Was ihr Zombiegreise hatet, macht mich extrascharf“, ätzt zum Beispiel Rapperin Tinkerbelly (18) aus Dortmund auf ihrem Youtube-Kanal. Dass sie sich dabei einen Fünfer-Riegel Kirschlikörpralinen von der Supermarktkasse einverleibt, provoziert Pädagogen und Ernährungsberater gleichermaßen. Wegen ihres unbändigen Appetits auf Merci und Mon Chéri wird die Altersgruppe inzwischen auch Generation M genannt.

Totgesagte Schokolade

Die lange totgesagte Merci-Schokolade wird von ihr sogar wieder rege verschenkt. Die galt seit Mitte der sechziger Jahre, wie zuvor schon Ferreros Mon Chéri, als Geschenkidee der Mittel- und Einfallslosen, als minderwertiger, aber hochglanzverpackter Lieblos-Dank. Dass Riegel und Pralinen jeweils einzeln eingewickelt sind und mit französischen Markennamen Weltläufigkeit suggerieren, gaukelte Noblesse vor und wurde deshalb von Bedürftigen geliebt – von allen anderen jedoch wegen der sentimentalen Werbung gefürchtet und gehasst („Merci, dass es dich gibt!“).

Bei den Eltern der Babyboomer, die mit Nazis und Krieg aufwuchsen und Kasernenhofton gewohnt waren, verfing die emotionale Geste aus dem Warenregal. In den nachfolgenden Generationen, von Boomern bis Millennials, misstraute man jedoch der spießigen Konventionalität immer stärker und erst recht der Schokoqualität. Bald freuten sich nur noch bildungsferne oder kranke Kleinbürger über das kitschige Präsent, während die Beschäftigten in Pflege und Dienstleistung die Packungen zu hassen begannen, nicht nur in der Weihnachtszeit. Witze machten die Runde, dass Storck und Ferrero zu produzieren aufhören könnten – die vorhandenen Gebinde würden ohnehin ewig von einer Person zur anderen weiterverschenkt.

Trashige Süßigkeiten

Dies vor allem beeindruckte jene Generation, die im Kampf gegen Lebensmittelverschwendung und für das legale Containern politisch sozialisiert wurde. Dass die Vorliebe für trashige Süßigkeiten ausreicht, um das konservative Spießerdeutschland zur Weißglut zu treiben, sobald sie mit minderen Regelverstößen wie Straßenblockaden garniert wird, war für die Jugendlichen das i-Tüpfelchen in Herzform auf dem Merci-Schriftzug. Und inspirierte Rapperin Tinkerbelly zu unsterblichen Reimen wie: „Wir wollen keine Autofahrer-Schweine! / Lecker wie nie ist dagegen Mon Chéri!“

Für die törichte Bevölkerungsmehrheit, die Verbrennungsmotoren verehrt und Lindt-Pralinen anbetet, stellt diese durchaus maßvolle und vernünftige Position eine unerträgliche Provokation dar. Den politisch bewussten Menschen zwischen 10 und 25 Jahren ist das indes „überwiegend Jacke wie Kacke“, wie die Rapperin aus dem Ruhrgebiet betont. Dass die meistverkaufte Packungsgröße bei Merci ganz unterschiedliche Geschmacksrichtungen bündelt und „Große Vielfalt“ heißt, ist für sie ein wichtiges Statement für Diversität und gegen den Zwang, sich unbedingt immer festlegen zu müssen.

Ganz ähnlich gelten die mittelmäßige Schokoqualität und die teils nichtssagenden Sorten, die in beiden Produktfamilien existieren, vielen Generationsangehörigen als Fanal gegen Prüfungsdruck und Leistungsgesellschaft. Wertgeschätzt wird dagegen, dass die „Piemontkirsche“ meist aus einer deutschen Region bezogen wird und damit als ebenso nachhaltig verstanden werden kann wie der klimaschonende Rückzug aus dem Markt, den sich Mon Chéri mit seiner fast fünfmonatigen „Sommerpause“ jedes Jahr gönnt.

Gerüchten jedoch, dass sich die ersten jugendlichen Klimaschützer in Münster schon mit Mon Chéris am Asphalt des Prinzipalmarkts festgeklebt hätten, tritt die 18-Jährige kopfschüttelnd entgegen: „Als ob wir den Konzernen aus der Hand fressen! Das sind typische Fake-News für demente ältere Herren, die uns bloß lächerlich machen sollen.“ Die symbolische Verbindung zwischen Süßwarenindustrie und politischer Jugend sei lediglich zum Aufrütteln gedacht und ohnehin nur auf Zeit. „Wenn wir uns zwischen Klimaschutz und Schokolade entscheiden müssen“, sagt Tinkerbelly und schaut etwas unglücklich, „nehmen wir natürlich das Klima und gehen dann ohne Abendessen ins Bett.“

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