Die Wahrheit: Vom Fleck weg Chaos

Übernehmerkongress 2022: Jahreshauptversammlung in Bad Wörishofen abgebrochen. Teilnehmer überfordert. Stadt geräumt.

Enthusiastisches Publikum

Überbordende Stimmung beim Übernehmerinnen- und Übernehmerkongress Foto: AP

Vorsätze für das neue Jahr – wer selbst noch nie einen gefasst hat, werfe als erster das Handtuch! Wie immer nimmt sich beim jetzt anstehenden Jahreswechsel eine große Mehrheit der Menschen für die vor uns liegenden zwölf Monate Großes vor. Abnehmen, Karriere machen, mit dem Rauchen anfangen oder mehr Alkohol trinken gehören zu den gängigsten Vorhaben. Gleichwohl ist bekannt, dass sich die meisten Menschen zu viel vornehmen. Wenn erst einmal der Alltag wieder einkehrt, müssen wir nur allzu oft feststellen, dass wir uns übernommen haben.

Wir befinden uns damit in guter Gesellschaft, denn in den letzten Jahren haben sich zahlreiche Interessengruppen für Übernehmer gegründet, die deutschlandweit vernetzt sind. Kurz vor Weihnachten etwa veranstaltete der Bundesverband der deutschen Übernehmer (BdÜ) in letzter Minute noch seine jährliche Hauptversammlung in Bad Wörishofen. Ursprünglich hatte man den Termin schon im Mai angesetzt gehabt, aber auf Grund von massiven Verzögerungen wurde die Veranstaltung in die ohnehin ereignisarme Vorweihnachtszeit verschoben.

Laut Plan hätte das zweitägige Programm am Abend des vierten Adventssonntags abgeschlossen sein sollen, jedoch hatten sich die Veranstalter übernommen, sodass dann alles etwas länger dauerte. Daher konnte die Stadthalle – den vollmundig gegenüber der Kommune abgegebenen Versprechen zum Trotz – nicht am Montagmorgen grundgereinigt, energetisch saniert und frisch begrünt rückübergeben werden. Die sich daran entzündenden Streitigkeiten, die mit der gewaltsamen Räumung des gesamten Stadtgebiets durch Hundertschaften der Polizei endeten, erregten bundesweite Aufmerksamkeit.

Kalender überbucht

Ein Gespräch von Vertretern der Stadtverwaltung mit dem Vorsitzenden des Übernehmerverbandes kam leider nicht zustande, da letzterer seinen Terminkalender mehrfach überbucht hatte und kurz davor stand, Zeitinsolvenz anmelden zu müssen.Ursprünglich war geplant, innerhalb von zwei Tagen etwa 9.200 Vorträge in 89 parallelen Sitzungen zu veranstalten. Als übergeordnete Themen standen die Steuerreform, der Ausbau der Eisenbahn-Güterstrecken, veganes Grillen, die nächste Mondlandung, die Stromgewinnung mit Kernfusion und die Entrümpelung einer Garage auf dem Programm. Sicherlich sei die Beschäftigung mit solch komplexen Inhalten, so hieß es in der Ankündigung, ein ambitioniertes Vorhaben, aber am Ende hätte man sich nicht entscheiden können, was man weglassen sollte – oder einfach gesagt: Egal, wir machen das alles!

Die Gefahr, sich dabei zu übernehmen, habe man nicht gesehen, vermeldete zwei Wochen nach Ende der Straßenschlacht von Bad Wörishofen der völlig überlastete Pressesprecher der Übernehmer. Ausnahmslos alle Mitglieder des Verbandes, die vorab konsultiert worden waren, hätten sich zuversichtlich gezeigt. Überhaupt kein Problem sei das, man müsse eben nur aufs Zeitmanagement achten, aber es sei doch wie bei einem Personenaufzug: Wo zehn reinpassen, hätte auch immer noch ein elfter Platz. Leider müssten sie, die Befragten, nun ganz schnell weiter, sie seien schon zu spät für die nächsten beiden Termine, die parallel stattfanden, und erwarteten zugleich einen wichtigen Anruf sowie den persönlichen Zeitmanagementcoach.

Termine umgeplant

Die meisten Teilnehmer der Tagung übernahmen vielfältige organisatorische Aufgaben, verhandelten mit den Behörden über eine Verlängerung des Aufenthalts und sahen zugleich zu, dass sämtliche in den nächsten Tagen anstehende Termine umgeplant wurden. In kürzester Zeit hatte sich praktisch jeder wieder konsequent übernommen. Die Besetzung der Stadthalle erstickte an Überlastung, viele Teilnehmer brachen unter ihrer Übernommenheit zusammen und gerieten in eine Art Lähmungszustand, aus dem sie nicht einmal mehr die Stromschläge ihrer KI-gesteuerten Termincomputer wecken konnte. Die meisten Übernehmer mussten von den bald überforderten Rettungskräften hinausgetragen und vom Fleck weg in eine der zahlreichen Burn-out-Kliniken geschafft werden, die rasch überbelegt waren.

Nun stellt sich rückblickend die Frage, ob die Politik inzwischen reagiert und dafür gesorgt hat, dass so etwas nicht mehr geschehen kann. Kurz nach den Vorfällen hatte die FDP staatliche Übernehmerhilfen gefordert, doch die zuständigen Stellen waren derart überbeansprucht, dass nicht einmal geklärt werden konnte, ob Hilfen überhaupt existierten.

Traditionell ist die Übernehmervertretung im Therapieministerium angesiedelt. Mehrere Medien, die eine Stellungnahme des zuständigen Staatssekretär Giselher Waltmann angefragt hatten, wurden jedoch abschlägig beschieden. Man bedauere es sehr, hieß es, aber der Herr Staatssekretär sei als studierter Prokrastinator vollkommen überarbeitet und müsse, selbst ohne noch neue Aufgaben zu übernehmen, bis lange nach Pensionierung und Ableben Dinge abarbeiten, die er in letzter Zeit angezettelt habe.

Auch unsere Anfrage stieß auf eine ähnliche Reaktion. Man solle doch einfach mit einer anderen Reportage weitermachen, irgendetwas sei doch sicher liegen geblieben? Oder gleich eine neue Geschichte anfangen, das Leben sei so oder so ein Fragment, wozu sich also über unfertige Dinge noch weiter den Kopf zerbrechen. Das Wichtigste sei, so die Assistenz am Telefon mit einem deutlich vernehmbaren Seufzen in der Stimme, dass sich niemand langweile, oder? Sie müsse nun jedoch aber leider das Gespräch beenden, auf den zahlreichen anderen Leitungen warteten bereits die nächsten Menschen, die sich übernommen hätten.

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kari

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