Die Wahrheit: Katar mal anders
Eine Frage zur leidigen Fußballweltmeisterschaft: Kann es sein, dass die Katarer gerade mit neokolonialen Besserwissereien getriezt werden sollen?
W enn man eine Sache nur versuchsweise von der anderen Seite her denkt, kommt man bisweilen zu den drolligsten Ergebnissen. Ein gutes Beispiel dafür ist, um mal gleich über die im Wüstensand nur notdürftig verankerten Spannseile ins Beduinenzelt zu fallen, Katar. Oder Qatar, wie es aus purer Polyglotterie neuerdings geschrieben wird, so wie eines Tages aus jedem Kongresszentrum ein Congresscentrum wurde. Mit Blick auf die Weltkarte könnte ich nicht ohne Weiteres die Arabische Halbinsel finden, auf der dieses sagenhafte Reich im Sand wohl liegen mag.
Erst kürzlich – das weiß ich noch, weil ich Politik interessant finde – war eine ehrwürdige Allianz aus Saudi-Arabien, Libyen, Jemen, Malediven und Mauritius irgendwie sauer auf Katar, weil das Land angeblich den Terrorismus unterstütze. Deutschland hat sich dieser Allianz nicht angeschlossen, weil die Erbmonarchie „uns“ leckeres Erdgas liefert und das Emirat seine Vertreter in den Aufsichtsräten von VW, RWE, Siemens, der Deutschen Bank und des FC Bayern München sitzen hat. Die Flugbegleiterinnen von Qatar Airways sehen ganz glücklich aus.
Qurioserweise leben in Qatar nur 270.000 Qarrieristen. Es haben also weniger Menschen den begehrten „Special K“-Pass als in Neukölln leben. Das muss man sich mal vor Augen führen. Um es sogleich wieder zu vergessen, denn insgesamt halten sich drei Millionen Möchtegernwüstensöhne und -töchter dauerhaft auf dem ariden Fleckchen auf, so viele wie in Kiew oder Lissabon. Ethnisch ist Katar also ein multikulturelles Paradies im Globalen Süden, so bunt wie – was ziehen wir denn diesmal als Vergleich heran? – Neukölln.
Nun ist durch das ansonsten undurchdringliche Dickicht meines sportlichen Desinteresses selbst mir zu Ohren gekommen, dass in Katar gegenwärtig eine besonders populäre Variante spielerischer Leibesertüchtigung unter Wettbewerbsbedingungen zur Aufführung gebracht wird. Umso irritierender, dass die Katarer nun mit neokolonialen Besserwissereien getriezt werden sollen.
Erstens geht es um „Menschenrechte“, ein universalistisches Konzept alter weißer Männer, das auf kulturelle Unterschiede keine Rücksicht nimmt. Zweitens soll eine muslimische Minderheit mit geschmackloser Regenbogensymbolik behelligt werden, die nachweislich allahlose Lebensentwürfe propagiert. Dieser antifundamentalistische Rassismus gipfelt drittens darin, einer selbst im eigenen Land marginalisierten Gruppe „westliche Werte“ aufzwingen zu wollen, was immer das sein mag. Eurozentrismus gehört sich nicht, Respekt und Sensibilität sind angezeigt. Das weiß ich noch, weil ich Politik interessant finde.
Wenn man die Sache von der üblichen Seite her denkt, kommt man selbstverständlich zu ganz anderen Ergebnissen. Aber einen Versuch war’s wert!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag