Die Wahrheit: Horrorschau mit Putin
Auf dem Laufsteg einer Mailänder Kinder- und Jugendmodemesse werden die Gruseltrends der aktuellen Halloween-Saison gezeigt.
Sie marodieren in kleinen, vermummten Grüppchen durch die Straßen und hämmern im Namen des Brauchtums an jede Tür. Nein, es handelt sich nicht um die iranische Religionspolizei. Es sind wie in jedem Jahr am 31. Oktober Kinder und Jugendliche, die „Süßes oder Sauren“ skandieren und sich als Hexen, Gespenster, Vampire oder Zombies verkleiden – überholte Rollenvorbilder aus dem letzten Jahrhundert. Zudem stehen die Kostüme im Verdacht des Ableismus, seit Filme und Fernsehserien belegt haben, dass Zombie-Ismus ein Krankheitsbild ist, das von Viren ausgelöst wird. Vampire dagegen haben eine seltene Blutkrankheit, Skelette und Gespenster leiden unter der ultimativen körperlichen Behinderung: dem Tod.
Als „böse“ Hexe zu gehen, ist wegen der Hexenverfolgung im Mittelalter diskriminierend und misogyn, wie der Verband Bundesdeutscher Hexen, Wiccas und Wicken e. V. aus gegebenem Anlass Anfang Oktober in einem Statement kritisierte. Sich als Coronavirus zu verkleiden, ist im dritten Jahr der Pandemie ebenso langweilig wie einfallslos, selbst wenn man hustend und „Süßes, sonst gibts ME/CFS“ krächzend einen positiven Test vorzeigt.
Was also trägt das mode- und trendbewusste Kind beim Geisterfest Nummer eins, in einer Zeit, in der die härtesten Horrormovies gleich nach der Tagesschau im Fernsehen laufen. Jedenfalls für die, die noch Fernsehen haben und sich nicht schon nach der Schule „Squid Games“ auf Netflix reinziehen?
Bösewicht des Jahres
Die Modemesse für erschreckende Kinder- und Jugendmode „Figli“ in Mailand gibt Antwort. Auf dem Laufsteg werden die aktuellsten Kostüme für die Kleinen vorgestellt. Besonders stark vertreten sind in diesem Jahr politische Kostüme und Verkleidungen: Der sechsjährige Kevin schlendert in einer hochwertigen Christian-Lindner-Verkleidung den Laufsteg entlang. Er trägt einen maßgeschneiderten hellgrauen Armani-Anzug, einen angeklebten Dreitagebart und eine mittelblonde Perücke. Dazu zieht er ein Porsche-Tretauto hinter sich her. Natürlich wird Kevin Lindner an Halloween nicht um Süßigkeiten betteln, er hat ja schon alles. „Es gibt Saures“, sagt er nur, bevor er am Ende des Laufstegs kehrt macht.
Hinter ihm stolpert mit hohem Haaransatz und versteinertem Gesicht der dreijährige Timmy den Laufsteg entlang – als Bösewicht des Jahres: Wladimir „Der Pfähler“ Putin. Wie schon Lindner im Maßanzug, allerdings nicht ganz so teuer. In der Linken trägt Timmy einen gasgefüllten Luftballon. „Süßes oder Spezialoperation“, ruft er auf Russisch. Mal sehen, ob er in dieser Verkleidung den Erwachsenen Angst macht.
Kaum sind die beiden im Backstage verschwunden, tritt Leon auf. In einem weißen Schlachterkittel, Plastikhaube auf dem Kopf und Kunststoffvisier geht er in diesem Jahr als Clemens Tönnies. Um nicht mit Michael Myers aus dem Film „Halloween“ verwechselt zu werden (oder mit Putin), trägt er ein Plastikschwein auf dem Arm, auf das er mit einem stumpfen Messer immer wieder einsticht. Sein passender Spruch lautet: „Süßes, sonst gibt’s veggie“. In einer hohen Kinderstimme gepiepst, gibt er dem Auftritt eine ganz spezielle Creepyness.
Mit Sprühkleber und Leuchtmittel
Eine Gruppe als Zwerge verkleideter Kinder kommt mit dem Spruch „Süßes, sonst gibt’s Sauron“ angelaufen. Ein gelungener Promo-Coup von Amazon Prime, um die neue „Herr-der-Ringe“-Serie zu bewerben.
In ganz normaler Alltagskleidung – wegen der kühlen Jahreszeit mit Mütze und Schal – kommt Lena auf den Laufsteg. Auf den ersten Blick nicht als Klimaaktivistin zu erkennen, trägt sie ein Demoschild mit der Aufschrift „Süßes, sonst gibt’s Klima“. Zur Untermauerung ihrer Forderung klebt sie sich später mit einem umweltfreundlichen, FCKW-freien, biologisch abbaubaren Sprühkleber an der Haustür oder der Fußmatte fest, bis es Süßigkeiten gibt.
Ebenfalls ganz normal gekleidet kommt ihre kleine Schwester Lisa auf die Bühne, sie trägt aber eine Laterne. Nein, es ist noch nicht Martinstag. Die Laterne ist ein leuchtender Genderstern, der sicher einige alte weiße Männer zutiefst erschrecken wird. Halloween kann kommen, und diesmal wird es richtig gruselig.
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