Die Wahrheit: Goya und die Raketen
Vor 40 Jahren ging in der „Nacht von Sevilla“ das WM-Spiel Frankreich-Deutschland über die Bühne. Wiederaufführung einer Legende.
Am 9. Juli 1982 sandte der wahrscheinlich größte Symbolist des 20. Jahrhunderts, François Mitterrand, ein Telegramm an das deutsche Volk, ad manus Bundeskanzler Helmut Schmidt, Bonn: „Die Glücksgöttin Fortuna hat eine Münze geworfen, und die Münze fiel auf die Seite der Deutschen.“ Was für ein kitschiges französisches Pathos, und doch, ich allein weiß, wovon der Sonnenkönig sprach, denn mich hat Fortuna berührt.
Im Frühjahr 1982 zog ich gleich nach den schriftlichen Abiturprüfungen von meinem niederrheinischen Heimatstädtchen nach Berlin-Schöneberg. Damals konnte man noch seinen ersten Wohnsitz in Berlin nehmen, um als neutraler Westberliner der Bundeswehr zu entgehen. Ausgestattet mit einer Reisetasche, quartierte ich mich in der Belziger Straße 1 ein, und nur zu den mündlichen Prüfungen trampte ich zurück an den Niederrhein, immer auf der Hut vor Feldjägern, die zeitweise mein Elternhaus belagerten.
Ich zog zu zwei seltsamen Brüdern, Ulrich und Hans-Hermann Gansekow, die ich bereits von der Schule her kannte. Gemeinsam hausten wir im Frühjahr und Sommer 1982 in einer Zweizimmerwohnung ohne Küche und Bad unterm Dach. Noch nie hatte ich so hoch droben gelebt, und der Ausblick war atemberaubend. Denn durch eine gütige amerikanische oder britische Fliegerbombe war das Haus gegenüber weggesprengt worden, und eine noch gütigere Sanierungspolitik der sechziger Jahre hatte dort einen tristen Flachbau entstehen lassen, so dass man einen Panoramablick auf den Kurfürstendamm besaß, mit Hochhaus-Skyline und einem Europacenter unter dem Mercedes-Stern, der sich blau durch die Nacht drehte.
Ansonsten war die Belziger Straße 1 nicht die beste Adresse. Es gab zwei Bordelle mit regem Betrieb und zwei Pensionen, in denen ausschließlich Asylbewerber untergebracht waren – ein Haus, das Turbulenzen anzog: Mal musste im Treppenhaus ein Messerstecher in die Flucht geschlagen werden, mal lag ein schwerverletzter Mann im Schacht des schon lange nicht mehr funktionierenden Fahrstuhls, den Weg nach unten hatte er sicherlich nicht freiwillig genommen.
Sex and Crime
Das Zentrum des Hauses war die im Erdgeschoss gelegene „Eros-Bar“, ein schummriges und nicht übermäßig frequentiertes Bordell, in dem wir des Öfteren nachts verkehrten, um Filme wie „Hugo, The Fuckmachine“ zu sehen oder die Stripteasetänzerin mit der krummsäbelgroßen Blinddarmnarbe zu bewundern, die sich jedes Mal nach ihrem Auftritt für die miserable Darbietung entschuldigte und gern mit uns Skat spielte. Man kannte sich als Nachbarn und aus dem Supermarkt und wäre nie auf die Idee gekommen, eine wie auch immer geartete geschäftliche Beziehung anzubahnen.
Über allem aber thronte in der sechsten Etage ein ehemaliger oder, genau war das nicht auszumachen, noch immer immatrikulierter, circa 45-jähriger Student der Theaterwissenschaft, dem es unter dubiosen Umständen gelungen war, die großzügig angelegte Herrschaftswohnung in seinen Besitz zu bringen und daraus das Regime eines Hausfürsten abzuleiten. Tag und Nacht stolzierte „Dr. Rohling“, wie er sich selbst gern nannte, durch seinen Berliner Salon, hantierte abwechselnd mit einer Geige, der er erbärmliche Töne abrang, weshalb ich sie eines Tages aus Mitleid stahl, und einer Flinte, mit der er Badegäste zu verschrecken pflegte: „Alles Parasiten, umgeben von Parasiten!“
Früher hatte hier ein adliger Künstler gelebt, der Kulissen malte, die dann außen am Haus abgeseilt und in das Theater im Parterre gebracht wurden – eine atmosphère, die den „Doktor“ spät nachts besonders berauschte. Dann deklamierte er im Unterhemd Lessings „Emilia Galotti“ und lobte sein fachkundiges weibliches Publikum. Denn Rohling finanzierte sich hauptsächlich dadurch, dass er die langen Zimmerfluchten an junge Theaterstudentinnen untervermietete, die es meist nicht länger als zwei Monate bei ihm aushielten.
Es war immer der gleiche Ablauf: Eines Nachts würde er im Zimmer stehen, um mit den Worten „Macht Platz, meine Gräfin“ das jus primae noctis einzufordern. Seinerzeit gelang es einer äußerst geschickten jungen Dame, den erglühten Fürsten von Guastalla auf den Balkon zu locken, wo er schließlich seinen nackten Arsch abkühlen durfte. Noch lange hörte man durch die Nacht das Pochen an die Scheiben: „Lasst mich hinein, meine Gräfin …“
Die Konstellation konnte also nicht günstiger sein: Auf der einen Seite des Flurs drei junge Männer in ihrer kleinen Wohnung, die zwar rein technisch zum Rohling’schen Gesamtverbund und Imperium gehörte, doch Schutz vor dem Toben und Wüten des entfesselten Fürsten bot, auf der anderen Seite ganze Räume voll schmucker Frauen, die ihrerseits manch begehrlichen Blick in unsere Richtung warfen. Die erste Kontaktaufnahme fand dann zu Ostern statt, weniger mittels eiskalter Händchen à la bohème als durch das Foto eines enorm behaarten Sacks, das wir – très charmant – mit der Unterzeile „Frohe Ostern“ an die weibliche Eingangstür hefteten. Das Eis war gebrochen.
Bombenlärm und Bettlaken
Von da an entwickelten sich diverse Liebschaften, in der schmutzigen, heruntergekommenen Zweizimmerwohnung entstand eine Ersatzfamilie, die, wenn sie nicht von allerlei eigenen Affären umgetrieben, rege teilnahm an gesellschaftlichen Ereignissen – wie der Berlinbesuch des amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan, zu dessen Empfang Lautsprecher mit Bombenlärm und weiße Bettlaken aus den meisten Fenstern gehängt wurden, was eine „pazifistische“ Stimmung oder ähnliches erzeugen sollte. Dass wir ein Laken mit den rot aufgepinselten Worten „Derwall, geh“ hinaushängten, sollte nicht nur in Schöneberg zu einiger Verwirrung führen, demonstrierte es doch eher unser wieder erwachtes Interesse am Fußball. Denn die Fußballweltmeisterschaft stand ins Haus.
Die WM 1978 in Argentinien hatte man teils pubertätsgeschädigt, teils diktaturbedingt kaum wahrgenommen. Im Gedächtnis haften blieb nur das Spiel von Córdoba, jene unsägliche 3:2-Niederlage gegen die Österreicher, mit dem verrohten Kommentar des ORF-Reporters Edi Finger, den man gern von einem Erschießungskommando der argentinischen Junta niedergestreckt gesehen hätte.
Wie aber sollte man sich jetzt dem Fußballsport zuwenden, ohne die gerade entstandene zarte Bande zu den Nachbarinnen aufs Spiel zu setzen, die – da waren wir uns sicher – die rohe männliche Körperlichkeit gar nicht goutieren würden? Wir lösten das Problem pragmatisch, in dem wir gemeinsame Fernsehabende, garniert mit allerlei Handgebäck, in Aussicht stellten und einfach ein Fernsehgerät erwarben. Das heißt, so einfach war es, wegen der begrenzten Mittel, denn doch nicht. Wir steuerten also „Schweine-Lothar“ an, den straßeneigenen Hökerer, der sich zwar als „Rocker“ bezeichnete, seine undurchsichtigen Geschäfte jedoch von einem Mofa aus erledigte. „Schweine-Lothar“ war im Kiez auch als der „dümmste Mann der Welt“ bekannt, seit er einmal auf den Balkon getreten war, mit den Worten „Ist nur ’ne Platzpatrone“ einen Revolver abfeuerte, worauf eine plötzliche Windböe Tränengas durchs offene Fenster in seine Wohnung trieb und die versammelten Kunden hustend ins Freie flüchten mussten.
Für vierzig Mark erstanden wir Goya, einen Farbfernseher der ersten Generation, der tiefkühltruhenartige Ausmaße besaß und auch ähnlich schwer war, so dass wir zu viert anderthalb Stunden brauchten, um ihn in die sechste Etage zu wuchten. Endlich oben angelangt, entdeckten wir an der Seite des Geräts eine Holztür, hinter der sich etwa 600 Knöpfe zur Farbregulierung verbargen, 200 für jede Grundfarbe. Als erste Benutzerregel wurde sogleich festgehalten, dass diese Knöpfe bei Todesandrohung niemals berührt werden dürften, eine Regel, die zwei Monate später an einem sehr berauschten Abend aber auch derart komplett über Bord geworfen wurde, dass fortan die „Tagesschau“ in einem äußerst surrealistischen Ambiente lilafarbener und meergrüner Kolorierung zur Aufführung kam.
Doch fürs Erste waren die Damen entzückt und beeindruckt von unserem Sachverstand und den Körperkräften und selbstverständlich von Goya, der jetzt ruckelnd und zischelnd ansprang und nach einem knirschenden Moment vollkommener farblicher Verwirrung munter ins Blaue hineinstrahlte.
Häme und Nichtangriffspakt
Die Weltmeisterschaft ließ sich dann ganz besonders schlecht an: Die deutsche Mannschaft verlor unter Leitung des einfältigen Bundestrainers Derwall gleich das erste Spiel gegen Algerien nach Toren von Madjer und Belloumi mit 1:2, und der Daily Mirror titelte mit unnachahmlicher englischer Häme: „Heil and Goodbye“. Als nach einem kurzen Zwischenhoch und einem 4:1-Sieg gegen Chile beinahe alles ins Lot zu kommen schien, spielte Deutschland gegen Österreich auf Kosten Algeriens „Nichtangriffspakt“, gewann zwar 1:0, doch „niemals ist der Fußball so pervertiert worden wie von den beiden angeblich großen Mannschaften“, urteilte die algerische Zeitung El Moudjahid anderentags. Es folgte ein 0:0 gegen England und ein knapper 2:1-Erfolg gegen Spanien.
Diese Knochen- und Würgertruppe mit der „Walz aus der Pfalz“ Hans-Peter Briegel, Manni „Banane“ Kaltz und Horst „Ungeheuer“ Hrubesch, diese Brechergarde machte sich selbst zum Gespött und raubte uns langsam jeden Spaß – bis zum Halbfinalspiel gegen die Überraschungsmannschaft Frankreich am 8. Juni 1982 in Sevilla.
Nein, Deutschland würde keine Chance haben gegen die eleganten Spieler Platini, Giresse, Tigana, Trésor, die von unseren Damen eifrig angefeuert wurden. Doch wie jedes Spiel begann auch das Halbfinale für uns erst einmal mit dem immer gleichen Ritual: Zunächst schmierte sich Hans-Hermann Gansekow eine wie mit dem Beil abgehackte Riesenkille, dann fettete er sich genüsslich die Hände mit Hautcreme ein, um pünktlich zum Anpfiff mit einer Flasche Sidolin vor Goya zu knien und minutenlang die Scheibe zu wienern.
Das Match wogte inzwischen angenehm hin und her, bis es schließlich so weit war, und er kam, dieser lange Pass von Michel Platini tief hinein in die deutsche Hälfte. Patrick Battiston startete zu einem Sprint, Toni Schumacher verließ sein Tor, der Ball flog an ihm vorbei, aber Schumacher rennt weiter, springt hoch, streckt seinen granatenharten Arsch heraus und erwischt Battiston, der zu Boden geht.
„Toni Schumacher, Beruf Unmensch“, schrieb L’Équipe am nächsten Tag, ohne zu ahnen, dass Schumachers Attacke und mehr noch sein Auftritt danach, wie er kaugummikauend und unbeteiligt am Torpfosten lehnt, während Battiston, der Arm hängt von der Bahre, hinausgetragen wird, dass es die Initialzündung war für einen grandiosen Sieg, nichts als einen Sieg.
Ziel und Sieg
„Reine Brutalität, vorsetzliche schwere Körperverletzung. Rote Karte, Elfmeter, wären die einzig möglichen Strafen gewesen“, empörte sich am Tag darauf scheinheilig das Hamburger Abendblatt. Doch wie Schumacher dastand, da verstanden wird: Wir sind böse, alle hassen uns, und wir gewinnen trotzdem, weil wir gewinnen wollen und das einzige Ziel dieses Spiels nicht französisches chichi, sondern Siegen ist.
Das Spiel ging in die Verlängerung, und die Franzosen führten schnell 3:1, bis Rummenigge eingewechselt wurde und den Anschlusstreffer erzielte, zurück lief in die eigene Hälfte und dabei die Faust in die flache Hand schlug, und wenig später schoss Fischer per Fallrückzieher den Ausgleich. Elfmeterschießen, zum ersten Mal bei einer Weltmeisterschaft wird ein Spiel durch Elfmeterschießen entschieden. Schon führten die Franzosen 2:3 durch Rocheteau, als Stielike dem französischen Torwart Ettori den Ball in die Arme schob. Noch während Littbarski den Weinenden tröstete, hielt Schumacher Six’ Schuss.
„Toni, Toni, du bist göttlich …“, jubelten wir und sprangen durchs Zimmer, und im gleichen Moment startete am Horizont eine einzelne Feuerwerksrakete in den Nachthimmel. Wir sahen hinaus und konnten uns nur schwer auf die nächsten Schützen konzentrieren: 3:3 Littbarski; 3:4 Platini; 4:4 Rummenigge; Bossis läuft an, und Schumacher hält erneut, läuft mit angewinkeltem Arm, die Faust geballt aus dem Strafraum. Dann tritt Hrubesch an und schießt das 5:4, das Spiel ist aus, aus, Deutschland ist Weltmeister, das heißt: erst mal im Finale, und wir fallen uns in die Arme, tanzen zu sechst umeinander, während Goya begeistert vor sich hin brutzelt, als plötzlich am Horizont weitere Raketen aufsteigen, immer mehr Raketen, bis der Himmel übersät ist mit feurigen Farben.
Ganz still stehen wir am Fenster, Arm in Arm, und sehen zu, wie die Nacht rot und silbern und golden glüht, und in dem Moment berührte mich Fortuna. Es war ein winziger niemals wiederkehrender Augenblick des Glücks. Nie wieder würde es so sein wie jetzt. Deutschland wird das Endspiel gegen Italien verlieren. Es wird keine Raketen mehr geben.
Glücklich und traurig sah ich nach unten auf die Straße, dort lief Schweine-Lothar, kopfschüttelnd schob er sein Mofa, der Vorderreifen war platt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Krieg in der Ukraine
„Weihnachtsgrüße“ aus Moskau