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Die WahrheitVater der Ablage

An die Rente hat damals niemand gedacht. Und jetzt fehlen Papiere über Papiere. Ob sie in den Stapeln und Kisten sind, die das heimische Chaos bilden?

A lle um mich herum sind ordentlich. Mein Vater ist ordentlich, mein Bruder erst recht, und meine Mutter ist geradezu penibel. Meine Lebensgefährtin ist sogar Wissenschaftlerin. Eine Meisterin im Entwickeln von Strukturen und Ordnung.

Ich bin Chaos. Ich bin ein Meister der Stapel und der Kisten. Von Ablage keine Spur. Mir bleibt, sobald ich etwas suche, nur die Toleranz der Menschen um mich herum. Aber die bekomme ich nicht von allen. Meine Eltern hatten rein rechnerisch mehr Zeit, sich an mich und meine Unordnung zu gewöhnen, als meine Freundin. Sie ist, was das betrifft, noch in der Eingewöhnungsphase.

Neuerdings hört man allerorten Wörter wie „Ruhestand“ oder „Rente“. Begriffe, die ich gar nicht kenne, weil es sich bei meinen zu erwartenden Rentenzahlungen auch nicht lohnt, sie zu kennen. „Wir“ haben uns „damals“ für alles interessiert, aber doch nicht für Rente. Und das ist bei mir mein Leben lang so geblieben.

Meine Rentenkasse machte mich kürzlich auf „Fehlzeiten“ aufmerksam. Der Brief lag dummerweise offen herum, und nun weiß meine Freundin, dass da etwas fehlt. Meine Eltern – die drei verstehen sich und ­telefonieren auch ohne mich miteinander – wissen es mittlerweile auch.

Ein harmloses Kaffeetrinken am Sonntagnachmittag geriet dadurch zum Tribunal. „Was fehlt denn?“, fragte mein Vater. „Unter anderem meine Studiennachweise“, antwortete ich. Meine Wissenschaftlerin sagte leicht vorwurfsvoll: „Aber die Bescheinigungen für die Rentenkasse waren doch immer an den Immatrikulationsbescheinigungen dran. Die musste man doch nur hinschicken.“ – „So?“, brummte ich. „Was noch?“, fragte mein Vater. „Abschlusszeugnis Uni zum Beispiel.“ Das könnte auch die Immatrikulationsbescheinigungen ersetzen. „Und sonst?“ – „Gesellenbrief. Zivildienstzeit. Also Wehrpass oder so.“

Meine Wissenschaftlerin atmete hörbar ein und aus. „Wieso hast du das denn alles nicht?“ Tja, wieso? „Oder ist das in einer deiner Kisten?“ Im besten Falle, dachte ich, könnte es da drin sein, aber meine Stapel und Kisten sind geordnet wie das Kölner Stadtarchiv nach seinem Einsturz. Ich bin zwar Nichtraucher, ging jetzt aber trotzdem erst einmal raus, eine rauchen. Als ich die Tür schloss, sah ich, dass mein Vater mit den anderen tuschelte.

Als ich vom Nichtrauchen zurückkam, lag ein Ordner auf dem Tisch. Darin in Folien meine Zeugnisse, das Schreiben vom Amtsgericht damals, mit 16, wegen Fahren ohne Führerschein, mein Wehrpass, mein Filmvorführschein! Sogar mein Seediensttauglichkeitszeugnis! Als ich 18 war, wollte ich zur See fahren, weil ich „Moby Dick“ gelesen und „Der Seewolf“ gesehen hatte.

Mein Leben in Dokumenten. Mein Vater hatte alles säuberlich abgeheftet. Jetzt verdanke ich ihm nicht nur mein Leben, sondern irgendwann auch die Rente. Jedenfalls einen Teil davon. Viel wird es ja nicht sein, aber mehr, als ich ohne ihn hätte nachweisen können.

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Bernd Gieseking
Der Kabarettist und Autor Bernd Gieseking steht seit über zwanzig Jahren auf der Bühne. Er schreibt Kolumnen für die »Wahrheit«-Seite der »taz«, Kinderhörspiele für den WDR Hörfunk sowie Bücher – und die am liebsten über Finnland: »Finne Dich Selbst!« und »Das kuriose Finnland-Buch«, alle erschienen im Fischer Verlag. Wenn er nicht schreibt, dann tourt er mit seinen Kabarettprogrammen »Gefühlte Dreißig«, »Finne Dich Selbst!« sowie - jeweils in den Wintermonaten - mit seinem alljährlichen satirischen Jahresrückblick »Ab dafür!« durch die Republik.
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9 Kommentare

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  • Ja wie? Minden-Kutenhausen allwedder!



    „Godfather of Jahresrückblick“.

    Empfehle - Mammuth 🦣 the roadmovie



    “ Der 60-jährige (!!)Schlachthofarbeiter Serge steht kurz vor der Rente. Um seine Pension zu erhalten, muss er den Behörden allerdings Bestätigungen seiner bisherigen Berufsstationen vorlegen, die er sich nie hat ausstellen lassen. Auf seinem alten Motorrad, einer Münch Mammut von 1973, macht er sich auf den Weg zu seinen ehemaligen Arbeitgebern. Auf diesem Trip in seine Vergangenheit trifft Serge auf alte Bekannte, Verwandte und veränderte Orte, durchlebt Erinnerungen und macht ganz neue Erfahrungen.“ img-4.linternaute....naute/11002728.jpg



    & Däh! =>



    Die Ähnlichkeit ist verblüffend - 🦣 -

    kurz - “Und abdafür!“ -

    unterm——



    Nur Mut - großes Bruderherz*39 - startete sojet Reise quer durch die Republik unlängst immerhin von Downunder aus! Shure. Das wird. Denn.



    “Ordnung ist das halbe Leben“ Volkers 👄 Aber was ist die andere Hälfte - hm?



    Die andern sind nur zu faul zu suchen •

    • @Lowandorder:

      Däh&Zisch - Mailtütenfrisch - fragt nach:

      “ Aber was ist die andere Hälfte? Suchen? Abbuchen?“

      => Ablage - 🙀🥳🦣 -



      “Wir - damals in den Ardennen“ Klimbim



      Nur Ingreed Steeger als Running-Girl - fehlt! Schade aber auch - 👙 -

    • @Lowandorder:

      Der Film ist ein Traum. Depardieu spielt gut. Seine Kumpelei mit Putin - gibt's die noch?



      Man muss das Werk von der Person wohl trennen.



      Ist nicht einfach

      • @Willi Müller alias Jupp Schmitz:

        Liggers. Bisken wenig 🦣 - egal! - 😎 -

        • @Lowandorder:

          Aber btw - Profi => Finger der linken Hand auf! dem Hebel! (l‘embrayage - Oui Oui! => bielle!!;( - 🙀😡 -

    • @Lowandorder:

      Klarheit in allen Verhältnissen – ist dem Individuum sehr förderlich, wenn es sich auf sich selbst beschränken will; will es aber eingreifen in die bewegten Räder des Weltganges, glaubt es als ein Teil des Ganzen selbsttätig nach eigenen Ideen wirken, schaffen oder hemmen zu müssen, so geht es um so leichter zu Grunde.



      Wer hat's geschrieben?



      Natürlich- Johann Wolfgang von Goethe



      ;-)

  • ...Der Brief lag dummerweise offen herum, und nun weiß meine Freundin, dass da etwas fehlt. Meine Eltern – die drei verstehen sich und ­telefonieren auch ohne mich miteinander – wissen es mittlerweile auch...



    .... Im besten Falle, dachte ich, könnte es da drin sein...

    Allet schön geschrieben. Echt, mit ville Jefühl!



    Ich mußte alles alleine zusammensuchen.Jawohl! Alle anderen hatten die Flucht ergriffen.

  • Kommt mir sehr bekannt vor. Mir fehlte nur der Vater als Archivar.



    Demzufolge blieben manche Löcher ungestopft und die Rente entsprechend mager.



    Shit happens