Die Wahrheit: Das Fressketten-Mikado
Der Vogel und der frühe Wurm am Montagmorgen: Verrichtungen zweier Gestalten, die sich einfach nie früh begegnen.
Als der Wecker des frühen Vogels klingelt, ist es draußen noch stockdunkel. Schließlich herrscht Winter, doch das ist dem frühen Vogel piepegal: „Rabota, rabota“, tschilpt er so laut, dass auch die Kinder wach werden und sofort anfangen zu sperren: Sie wollen ihr Frühstück. War ja klar. Hätte der Idiot sie nicht geweckt, würden sie alle noch selig schlummern.
Auch die Frau vom frühen Vogel, oder der Mann – die Rollen sind bei den Piepmätzen nicht in Stein gemeißelt – steht längst senkrecht im Nest. An ihrer (oder seiner) Stelle würde ich mich ja schön bedanken. Doch der Partnervogel ist noch viel zu müde, um sich aufzuregen. Es ist doch praktisch noch mitten in der Nacht. Wie betäubt sitzt er vor einer dampfenden Tasse Vogelkaffee und kriegt nicht den Schnabel auf und nicht die Augen.
Der frühe Vogel putzt derweil schon gurgelnd seinen Schnabel, spitzt ihn sorgfältig an und springt dann sportlich federnd und energiegeladen aus dem Nest: Dem mickrigen Wurm wird er es heute früh aber mal so richtig zeigen! Am Vogelkiosk kauft er noch die Bird-Zeitung, ein Boulevardschmierblatt mit großen Buchstaben: „Eilmeldung, ihr Ficker! Früher Vogel fängt den Wurm!“, hetzt, lügt, brüllt es ihm wie jeden Tag von der Titelseite entgegen. Na, wenn die das schreiben, kann es ja nur stimmen, denkt er. Er hat es doch gewusst!
Frohgemut macht er sich auf die Suche nach dem Wurm. Das ist nicht leicht, denn immerhin ist es noch zappenduster. Und Vögel sind nun mal Augentiere. Der frühe Vogel guckt mal in die eine Ecke, mal in die andere. Nüscht. Zunehmend hektisch durchsucht er bald jeden Winkel. Kein Wurm, nirgends.
Vogel müde
Der Wurm macht sich rar. Hoffentlich ist er nicht in einem Wurmloch verschwunden, dann hätten ihn die Gezeitenkräfte der Singularität in einzelne Atome zerrissen und das würden die Vogelkinder in der Form nie und nimmer essen wollen, von der praktischen Servierbarkeit mal ganz abgesehen. Irgendwann wird es wenigstens hell, doch noch immer ist weit und breit kein Wurm zu sehen. Der frühe Vogel ist längst scheißmüde. Er flattert nur noch ganz schwach. In seiner Performance ist jetzt ganz schön der Wurm drin, aber leider nur da. Sein Magen knurrt. Zu Hause sperren hungrig die Kinder. Hätte er die nicht aus dem Schlaf gerissen, würde der noch immer seinen gnädigen Mantel über die nagenden Hungergefühle decken.
Wir schalten um – zur etwa selben Zeit im Wurmhaus (Apfel oder so): Der Wurm gähnt und streckt sich ausgiebig. Das dauert lange, denn der Wurm ist nun mal lang. Er muss jedes seiner hundert Wurmglieder ausgiebig knacken lassen. Aber kein Problem, er hat ja Zeit. Solange da draußen der frühe Vogel rumturnt, zieht es ihn sowieso nicht gerade unwiderstehlich ins Freie. Dass er ein Wurm ist, heißt ja nicht, dass er blöd wäre.
Ganz im Gegenteil. Deshalb macht er es sich noch mal so richtig locker in seinem Wurmbett, oder sie, beziehungsweise sie beide – bei den fluiden Würmern weiß man ja nie so genau, und es ist ja auch egal. Für Tierarten, denen es wichtig ist, wer oben liegt oder wer überhaupt wen begattet, haben sie nur Mitleid übrig, das an schlechten Tagen durchaus auch mal leicht über die Grenze zur Verachtung hinaus schwappen kann.
Mittagspause
Die Wurmkinder spielen leise in ihren Bettchen, um ihre Eltern nicht in deren verdientem Vormittagsschlaf zu stören. Sie müssen nicht zur Schule. Wer sollte das auch kontrollieren? Was sollten sie auch lernen? Kriechen können sie schon, und mehr braucht es nicht zum Leben, mehr braucht es nicht zum Glücklichsein.
Es ist mittlerweile vierzehn Uhr, und der frühe Vogel hat bereits Feierabend. Die Rechnung ist einfach: fünf Uhr dreißig bis vierzehn Uhr, inklusive einer halben Stunde Mittagspause. Erfolglos macht sich unser dummer, gefiederter Freund auf den Heimweg. Was soll er dort sagen, wie wird es weitergehen, von was soll seine Familie leben? Er weiß es nicht.
Es naht die Stunde des Wurms. Behäbig erhebt er sich, und öffnet noch im Morgenmantel einen Spaltbreit die Tür seines Wurmhauses. Überlegen und doch nicht völlig ohne Sympathie blickt er dem mit hängenden Schultern davon schlurfenden Vogel hinterher. Der Tag kann beginnen.
Raum für Notizen
Man möchte meinen, das alles wäre eine Parabel auf eine entfremdete und überkapitalisierte Tretmühle hier, und einen entschleunigten und selbstbestimmten Lebensstil dort, aus der sich unschwer eine wenig subtile Parteinahme für ein stressfreies, im ureigensten Sinne lebenswertes Leben herauslesen ließe, das den natürlichen Biorhythmus des Individuums respektiert und diesem Raum zur freien Entfaltung lässt. So würde kompromissloses Slackertum in einen protoreligiösen Rang erhoben, mit dem späten Wurm als allwissenden Heiland.
Aber das ist Quatsch. Man muss gar nicht immer so viel in die Dinge hineininterpretieren, das ist hier nicht das Philosophie Magazin, sondern ganz einfach nur 1 Lifehack für 1 Vogel, Service, Coaching, wenn man so will. Die Botschaften lauten: „Weniger ist mehr“, „Chill doch mal“, „Spät ist das neue Früh“, und „Spiel das gute alte Fressketten-Mikado doch einfach mal nach seinen naturgegebenen Spielregeln: Wer sich zuerst bewegt, hat verloren.“
Entspannt bleiben, antizyklisch agieren. Irgendwann muss der Wurm ja mal raus aus seinem Loch, und seine kleinen Wurmbesorgungen verrichten, respektive Wurmverrichtungen besorgen. Dann gilt es für den Vogel, hellwach und ausgeruht zu sein. Und keinen Moment früher.
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