Die Wahrheit: Nie wieder Stress im Christstollen
„Woke am Ofen“: Es ist höchste Zeit, beim Backen aufzuwachen – was wir jetzt brauchen, sind beherzte Weckmänner*Innen.
Der nächstliegende Monat Dezember hat es in sich. Er beginnt mit dem Tag des Spekulatius am 2., danach kommen die Einschläge in rascher Folge: Tag der Zuckerwatte am 7., Christstollentag am 10. Tag des Zimtsterns am 11., Honigkuchentag am 12. Dezember, National Cupcake Day ist am 15. oder ganz profan: Tag des Weihnachtsgebäcks am 22.. Anschließend bleiben nur noch 48 Stunden, bis sich wieder alle auf den Keks gehen. Zum Glück gibt es für alle Gebäckträger noch am 23. Dezember den Tag der Zahnfüllung.
Der Kalender, er sieht aus, als hätte ihn die Redaktion eines Landliebe-Magazins zugeballert. Wenn wir alle Cookies zulassen, dürfen wir uns hernach auf keine Waage mehr trauen. Dabei dient das Gebäck lediglich dazu, all jene mürbe zu machen, die Weihnachten in der Familie nur in Begleitung eines UN-Beobachters feiern können, zusammen mit großen Mengen Punsch, Glühwein, Eierlikör oder ähnlicher Hilfsmittel. Das ist der Moment, in dem sich viele zum Rauchen auf den Balkon verkrümeln, selbst wenn sie noch nie eine geraucht haben.
Aber: Vorbei die Zeiten, in denen man noch einfach so drauflosbacken konnte. Für ganz Ausgeschlafene ist wokes Backen en vogue. Heutzutage setzt selbst die Deutsche Bahn auf Nachhaltigkeit, und sogar manche Mitglieder der FDP, die sich sonst hauptsächlich mit Spekulatiusobjekten befassen, können mittlerweile das Wort „Emissionszertifikat“ unfallfrei buchstabieren. Während die veganen Makronen geschmeidig aus dem 3-D-Drucker gleiten, gehen alle woken Weihnachtsbäcker*Innen (Stern kein Zimtstern) längst neue Wege: In größeren Backbetrieben nachhaltig und sozial verträglich, unter Beachtung aller gültigen Mandeltarife. Vanillestangen und Nüsse, die von freilaufenden Erntehelfern gesammelt werden. Beschäftigte in der Süßwarenindustrie werden serienmäßig mit Knickebeinschonern ausgestattet. Keine Minderjährigen, die in Christstollen schuften müssen. Kein Weißmehl aus Weißrussland! Keine Dominasteine mehr! Marzipanschweinchen dürfen nicht mehr die Ringelschwänze kupiert werden. Honigkuchenpferde, die nie von Springreiter*Innen malträtiert wurden. Selbstgelegte Eier von Wohlfühlhennen, deren Küken nicht geschreddert werden. Überhaupt sollte man ausschließlich mit Tieren zusammenarbeiten, die noch nie von Sehr-bald-Ex-Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner gehört haben.
Weiterbacken wie bisher? Vergiss es. Vorbei der rücksichtslose Backwahn und die selbstvergessene Erdnussbutter-Ekstase. Schon der Schadstoffausstoß beim Backvorgang bereitet Kopfschmerzen, da sollte wenigstens alles andere stimmen. Öfen müssen folglich den Leitlinien der Geothermie entsprechen. Lebkuchenherzmassagen, Vanillekipferlrecycling, palmölfreies Früchtebrot. Hier ist natürlich die neue Bundesregierung gefordert, mit Allgemeinplätzchen kommen wir nicht mehr weiter: Der Anteil der Biomasse an Teigwaren muss deutlich angehoben werden. Süßwaren brauchen außerdem Hinweise aus Schokoguss wie „Zucker kann Ihre Gesundheit gefährden“.
Höchste Zeit, aufzuwachen, was wir brauchen, sind engagierte, beherzte Weckmänner*Innen. Während draußen die Schneeträumkommandos unterwegs sind, sitzen wir in der guten Stube, die die Oma schon seit Wochen gemütlich zugehäkelt hat, und gemeinsam singen wir beseelt mit Merle Haggard seinen Hit aus dem Jahre 1974: „If we make it thru December, we’ll be fine.“ Am 30. Dezember, wenn der Backpulverdampf sich verzogen hat, feiern die Amerikaner übrigens – no shit – den „Tag der Entscheidungen in letzter Minute“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin