Die Wahrheit: Herr Elsinghorst explodiert
Er könnte mal wieder seine Aktentasche inspizieren: Der abgeschlossene Wahrheit-Bildungsroman über einen Lehrkörper mit ganz viel Wumms.
Als Herr Elsinghorst erwachte, war es früh am Morgen und auf den ersten Blick schien es ein Tag wie jeder andere. Herr Elsinghorst stand auf und mischte sich in der Küche ein paar Laugen oder Säuren zusammen. Ganz auseinanderhalten konnte er den Quatsch nie. Hauptsache, es schmeckte.
Da ahnte Herr Elsinghorst noch nicht, dass er in wenigen Stunden explodieren würde. Doch zunächst war Frühsport angesagt. Herr Elsinghorst neigte seinen Kopf in einem unglaublichen Winkel. Er hätte nur noch ein wenig mehr neigen müssen, dann hätte er seine Zehen sehen können.
Der Wecker klingelte. „Harr, harr!“, entfuhr es Herrn Elsinghorst, bevor er sich erschrocken seine muskulösen Hände vors Gesicht schlug. Hatte er diesen gottverdammten Wecker endlich ausgetrickst und war vor ihm wach geworden! Kichernd nahm er die Hände wieder vom Gesicht.
Überwältigende Ideen
Heute war Chemie dran. Oder Physik. Oder Mathe oder Bio oder Reli. Oder Erdkunde. Herr Elsinghorst ließ missmutig seinen Blick über den Stapel blauer Hefte schweifen. Die musste er alle noch korrigieren. Plötzlich packte Herrn Elsinghorst ein Gefühl. Es war so eine Mischung aus Misstrauen und Wohlgefallen, irgendetwas Unbeschreibliches. Dann war das Gefühl wieder weg.
Jetzt wurde es aber Zeit! Der Direktor stand sicher schon mit dem Zeigefinger an der Armbanduhr im Haupteingang, um Herrn Elsinghorst daran zu erinnern, dass es gleich acht schlagen würde.
Für die erste Unterrichtsstunde hatte Herr Elsinghorst sich etwas Besonderes ausgedacht. Er hatte fluoreszierendes Material in seine Aktentasche gepackt. Da würden die Schüler aber staunen. Herr Elsinghorst musste sich ganz kurz niedersetzen, denn er war von seiner eigenen Idee so überwältigt. „Dynamit!“, schoss es ihm dann durch den Kopf. Aber das war ihm zu billig. Es musste doch etwas Besseres als Dynamit geben. Herr Elsinghorst spielte kurz mit dem Gedanken, wieder schlafen zu gehen. Doch das kam nicht in Frage, denn er war hellwach.
Abkürzung durch ein Textilkaufhaus
Er schaute auf sein Bücherregal. Daraus entsprang nicht das winzigste Fitzelchen Inspiration. Herr Elsinghorst erinnerte sich daran, dass er als zwölfjähriger Knabe einen Chemiebaukasten zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte, obwohl er eigentlich ein Mikroskop gewollt hatte. Diese Enttäuschung hatte er sein Lebtag nicht verdauen können. Irgendwo tief in seiner Seele entstand eine Wut, der er spontan mit dem Ausruf „Verdammt noch mal!“ Luft machte. Er wusste nicht, ob er ein schöner Mann war, aber das war ihm auch schnurzpiepegal. Denn jetzt wusste er, was zu tun war: Mit akribischer Sorgfalt durchsuchte er seine ganze Wohnung. Hier war aber nichts zu finden. Außerdem hatte er irgendwann vergessen, was er eigentlich gesucht hatte.
Die Zeit! Auch die hatte er vergessen! Er würde zu spät kommen. Flugs legte sich Herr Elsinghorst die Augenmaske an, warf sich in seinen purpurroten Umhang, vergaß auch nicht Säbel, Pistole, Peitsche und Aktentasche und schwang sich auf sein Ross. Er preschte viele Stunden durch Regen, Sturm, Hagel und Gewitter und nahm sogar noch eine Abkürzung durch ein Textilkaufhaus, um rechtzeitig an der Schule zu sein.
Noch wusste er nicht, dass er später explodieren würde, aber irgendein Unheil schien in der Luft zu liegen. Er betrat das Klassenzimmer und hängte wie jeden Morgen sein gerahmtes Lehrer-Diplom hinter seinem Ikea-Schreibtisch auf. Die Schüler sollten schließlich wissen, dass er ein waschechtes Lehrer-Diplom hatte. Sie selbst würden nie eines bekommen, denn sie lernten in der Schule nichts. Sie hatten ja einen unfähigen Lehrer. Nämlich ihn.
Tote und lebendige Käfer
Die Stunde begann, aber Herr Elsinghorst schaute schon nach drei Minuten genervt auf seine Armbanduhr, die er zur Kommunion bekommen und seither niemals abgelegt hatte. Nicht zu fassen, wie langsam die Zeit im Unterricht immer verging. Es kam ihm vor, als sei er schon zehn Stunden bei der Arbeit. Dabei war es erst 8.03 Uhr. „Für mich ist auch die erste Stunde!“, hörte er sich laut rufen, wusste aber nicht, ob er das vielleicht nur geträumt hatte.
„Ihr überlegt euch jetzt irgendwas“, rief er seiner Klasse zu. „In 30 Minuten könnt ihr mir sagen, was ihr euch ausgedacht habt. Vorher will ich meine Ruhe haben!“ Er könnte mal wieder seine Aktentasche inspizieren. Das hatte er schon seit Jahren nicht mehr gemacht. Wie spannend! Mit der rechten Hand griff Herr Elsinghorst in die Tasche und förderte so einiges zutage: Eine Vesperdose, ein Poesiealbum (noch eingeschweißt), ein Seil, einen Knüppel, eine Murmel, einen Pfennig, einen Bund mit verrosteten Schlüsseln, eine Brechstange, eine Fletsche, eine randlose Brille, einen toten Käfer, einen lebendigen Käfer, einen Schlagring, ein Knäuel Wolle, eine Stange Dynamit. Eine Stange Dynamit? Wie kam die denn bitte in die …
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Wir unterschätzen den Menschen und seine Möglichkeiten“
Sport und Krieg in der Ukraine
Helden am Ball
Krieg in der Ukraine
„Weihnachtsgrüße“ aus Moskau