Die Wahrheit: Wahlkampf unter Walen
Aus dem geschäftigen Leben eines gütigen Potentaten: Auch auf dem Meeresgrund wird der turnusgemäße Urnengang vorbereitet.
Dick, der Wal, zerrte schwitzend an seiner scheuernden Krawatte herum, am ganzen Körper juckte es ihn. Es war wieder Wahlkampf, und alle wollten etwas von ihm. Lautlos zog er durch sein Atemloch an einer Algenzigarre und versank in Erinnerungen …
Als junges Kalb hatte er mit seiner Schule oft Ausflüge an die Wasseroberfläche unternommen. Und da waren immer Menschen in lustig schaukelnden Booten, die freuten sich, wenn die Schulkälber auftauchten, sie riefen ihnen nette Dinge zu und waren immer fröhlich. Dann jauchzte Dick: „Wie schön muss es an Land sein, denn die Menschen sind allesamt immerzu glücklich und lachen unentwegt. Wenn ich groß bin, will ich auch an Land gehen und wie die Menschen leben.“
Der Schulleiter aber, der alte, weiße Pollard, runzelte dann nur seine breite, zerfurchte Stirn, verzog sein ohnehin schiefes Maul noch ein bisschen schiefer, schlug unwirsch mit seiner gewaltigen, muschelbedeckten Fluke auf und ab, dass es nur so spritzte, und stimmte schließlich wehmütige Gesänge an …
Als Dick älter, größer und kräftiger wurde, versuchte er immer wieder, dem Ozean zu entsteigen, doch wenn er dann gerade mal so mit Ach und Krach zumindest bis auf eine Sandbank gelangt war, schoben ihn die schreienden Menschen zu Hunderten mit Gewalt wieder zurück ins Meer. Irgendwann hatte er bitterlich enttäuscht aufgegeben, er wurde wasserscheu und erschuf tief auf dem Meeresgrund unter einer riesigen Panzerglaskuppel eine fast landähnliche, trockene Welt, in der er nun als selbstgewählter parteiloser Gebieter, gütiger Monarch und gestrenger, aber gerechter Potentat über ein glückliches Volk von vernünftigen und aufgeklärten selbstbestimmten Pflanzen und Tieren herrschte …
Das Telefon schrillte! Dick schreckte aus seinen Träumen von der fernen Vergangenheit hoch, zog sich schnell einen Happs Schillerlocken durch die Barten, warf eine Dose Sardinen hinterher und nahm hektisch den Hörer ab. Er hatte ein Retrotelefon. „Hier Lefti!“, bölkte es aus der Leitung. „Wie sieht’s denn nun aus? Können wir?“
Alle verfeindeten Lager hängten Poster und Plakate auf
Verdammt, der Wahlkampf! Den hatte er schon wieder verdrängt. Er hatte nie verstanden, was so aufregend an Wahlen sein sollte, doch die Menschen machten es halt auch und seine Untertanen freuten sich jahrelang darauf: Sie malten bunte Poster und Plakate, erfanden sich immer neue Lebensläufe, spalteten sich spielerisch in verfeindete Lager und diskutierten monatelang über Dinge, die sie eh nicht ändern konnten oder wollten – aber das war egal, es machte ihnen einfach Freude.
„Hey, Dick“, tönte es abermals aus dem Telefon, „Dick, hörst du mich? Dick, hier ist Lefti, können wir? Du weißt doch, unser heimlicher Deal, Dick, weißt du noch? Dick, der Deal von gestern. Weißt du noch? Dick? Können wir, Dick? Di-i-ick?“
Dick verdrehte die Augen zweimal im Kreis. Nicht jetzt auch noch Lefti vom BFS (Bündnis für Sauberkeit). Dick legte auf. Seine Gedanken schweiften in wabernden und bunten, mit sirrender Musik untermalten, wellenartigen Bewegungen ein weiteres Mal zurück …
Erst gestern war er mit Lefti, dem Parteivorsitzenden der Schwämme, Schwämminnnen und Schwammartigen in der zwielichtigen Spelunke Zum letzten Tran versackt, wo in finsteren Ecken unter den dunklen Holzbänken illegal mit gefälschten Kapitänspatenten, getürkten Kaperbriefen und künstlichem Seetang gehandelt wurde. Sie hatten etwas wirklich Wichtiges besprochen, doch Dick konnte sich beim besten Willen nicht mehr an das Thema erinnern. Nur am Rande seines rechten Schläfenlappens kam ihm das Bild eines Purzelbaum schlagenden Fischbrötchens in den Sinn, das aber garantiert nichts mit Lefti und dem geheimnisvollen Deal zu tun hatte …
Das mit dem Fischbrötchen hatte er wahrscheinlich geträumt. Beim Gedanken daran bekam er schon wieder Hunger. Dick seufzte und wählte die Nummer der WSDG-Zentrale. Er ließ es genau einmal bimmeln, dann legte er sehr schnell wieder auf mit den Worten: „Keiner da, ich hab’s immerhin versucht.“ Die Seegurken von der WSDG (Wir sind die Gurken) nervten noch mehr als der verdammte Lefti, immerzu wollten sie Absprachen treffen und geheime Signale bestimmen, oder sie lagen ihm quengelnd in den Lauschlöchern, dass diesmal aber wirklich sie mit Gewinnen dran wären.
Nach Lust und Laune wurde in unregelmäßigen Abständen gewählt
Dabei wurde Dick niemals müde, seinem Volk zu versichern, dass er, als parteiloser Gebieter, gütiger Monarch und gestrenger, aber gerechter Potentat stets peinlich darauf achten würde, dass jede Partei bei den von ihm nach Lust und Laune in unregelmäßigen Abständen geduldeten Wahlen, dass also jede Partei reihum einmal gewinnen würde, damit sich keine benachteiligt fühlte. Diesmal wäre eigentlich die FWS (Freie Wasserliebende Selbstbestimmte) dran, eine wild zusammengewürfelte, ominöse Truppe von radikalen Pflanzen, Krillvertretern und Quastenflossern – und sogar ein ausgewachsener Megalodon war darunter.
Die Anhänger der FSW wollten aus der Kuppel wieder zurück ins offene Meer und ließen keinen Zweifel daran, dass es ihnen ernst damit war, denn sie verfolgten ihre albernen Ziele auch außerhalb der seltenen Wahlkampfzeiten. Dick beobachtete sie genau. Wahl-Watching, nannte er das. Diese ominösen Hippies würde Dick keinesfalls gewinnen lassen. Seine Haut juckte wieder wegen der bescheuerten Krawatte mit dem Fischgrätmuster!
Das Telefon schrillte erneut! Dick bekam Kopfweh, und sein Kopf war verdammt groß. Vielleicht hatte er es gestern mit Lefti doch zu doll getrieben, aber dieser hirnlose Hubbel, der aussah, wie Dick sich einen Kuhfladen vorstellte, konnte einen solch kolossalen Charme entwickeln, dass er einer Auster Perlen hätte verkaufen können. Oder Dick hochprozentigen Walnussschnaps.
Da ging Dick plötzlich ein Licht auf. Er kramte in einer kleinen, verdeckten Schublade – und tatsächlich: Dort lag eine edle Perlmuttbox, die zwei Flaschen sanft und golden schimmernden Walnussschnapses barg. Langsam deuchte Dick, was Lefti vorhin mit dem geheimnisvollen Deal gemeint haben könnte. Er bekam den sagenhaft teuren Walnussschnaps, und Lefti würde mit seiner sauberen Partei die Wahl für sich …
Das Telefon schrillte wieder vor sich hin. Dick ließ es gelassen lärmen. Er nahm einen kräftigen Schluck Walnussschnaps, zog sich noch ein paar prickelnde Feuerquallen durch die Barten, fläzte sich mit schiefem Grinsen auf eine furztrockene Muschelbank und ließ die öde Wahl einfach Wahl sein. Morgen war schließlich auch noch ein Tag, der neue und bunte Abenteuer auf dem Trockenen versprach …
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen