Die Wahrheit: Backen wir’s an
Die gesamtgesellschaftliche Kuchenlage ist bei Weitem besser als gedacht. Es folgt ein leckerer Schmandbericht in karg bewegten Zeiten.
„Börrrp“, schallte es durch die Eingangshalle, als Florian Sanftleben das Bürohaus im Münchner Zentrum betrat. Aber offensichtlich kümmerte das lautvernehmliche Bäuerchen niemanden hier, alle schienen es gewohnt zu sein, dass über der deutlichen Schicht Süße, die in der Luft hing, auch ein Hauch von Säuerlichem lag. Es roch nach Aufgestoßenem, als ob jemand dringend einen Magenbitter zur Verdauung bräuchte. Den hätte der Neuankömmling jetzt gern allein wegen der Aufregung verköstigt.
Als Florian Sanftleben zum ersten Mal an der Redaktionskonferenz seines neuen Arbeitgebers teilnahm, staunte er nicht schlecht über das prächtige Kuchenbuffet, das sich an der Längsseite des Konferenzraums entlangzog. Kein Wunder, wenn man bei Schmand – das deutsche Tortenmagazin angeheuert hatte. Vom einfachen Blechkuchen bis zur üppigen Sahnetorte war alles geboten, was Bäckerhandwerk und Konditorenkunst zu bieten hatten.
In seiner letzten Arbeitsstelle beim Gundelfinger Kreisecho begnügte man sich bei derlei Gelegenheiten mit belegten Brötchen zur Verköstigung der Angestellten – hier spielte man offensichtlich in einer ganz anderen Liga. Florian Sanftleben hievte ein riesiges Stück Schwarzwälder Kirschtorte auf einen Teller und setzte sich in den Kreis seiner neuen Kollegen, die sich ihrerseits schon mit allerlei Leckereien eingedeckt hatten.
Heribert Müller, seines Zeichens Gründer, Verleger, Herausgeber und Chefredakteur von Schmand in Personalunion, eröffnete die Konferenz mit einer launigen Vorstellung des „frisch gebackenen“ neuen Mitarbeiters, dann wurden die Themen für die nächste Ausgabe diskutiert. Anita Kempf-Hattenstein, die Lifestyle-Redakteurin, wurde mit einer Reportage zum Thema „Macarons – süße Verführung eines Präsidenten“ betraut, der Kollege vom Sport hatte sich für das nächste Heft mit der faszinierenden Welt des Spritzgebäck-Dopings herumzuschlagen, während Florian Sanftleben sich „zum Aufwärmen“ mit einer Bildstrecke über die größten Tortenschlachten der Geschichte befassen musste.
Keine aufgepimpte Bäckerpostille
Schnell wurde Sanftleben klar, dass Schmand – das deutsche Tortenmagazin kein Marketingtool des Bäckerhandwerks war, keine aufgepimpte Bäckerblume, das nur die locker-luftige Seite des Konditorwesens in Buttercreme-gesättigten Bildstrecken feierte, sondern ein Investigativmedium, dessen Blick auch über den sprichwörtlichen Kuchentellerrand hinausreichte. „Themen von sozialer, wirtschaftspolitischer, gesellschaftlicher Relevanz“, dozierte Heribert Müller, während er eine Gabel mit ostfriesischem Schmandkuchen zum Mund führte, „das ist es, womit wir die deutsche Schwarzwälder-Kirsch-Gesellschaft durchleuchten wollen!“
Während Müller sich relativ länglich über die journalistischen Visionen seines Leib-und Magenblattes ausließ, blätterte Florian Sanftleben unauffällig in alten Schmand-Heften. Er fand eine erstaunliche Bandbreite an Themen, die sich allerdings meistens im zuckrigen Feel-good-Spektrum bewegten: „Kann denn Sahne Sünde sein?“, „Eierschecke – Sachsens Beitrag zum deutschen Kuchenwunder“ oder eine historische Betrachtung über „Karl Napf – Erfinder des Napfkuchens“.
Bei der Erwähnung des Begriffs „Tortendiagramm“ schreckte Sanftleben aus seiner anregenden Lektüre auf. Chefredakteur Müller war gerade dabei, für die nächste Nummer eine ausführliche Vor-Wahl-Berichterstattung anzukündigen. Doch bei der Diskussion der Themen bekam die perfekte Zuckerglasur der redaktionellen Eintracht unübersehbare Risse.
Während People-Redakteurin Vanessa Impler sich unbeirrt auf gefühlige Home-Storys à la „Armin Laschet – das Aachener Printen-Medium“ oder „Peter Altmaier – Teilchenbeschleuniger der deutschen Politik“ kaprizierte, forderte Holger Menzow, ganz Reporter der alten Schule, vehement eine stärkere Ausrichtung des Blattes auf die fundamentalen parteipolitischen Differenzen. „Wenn Christian Lindner die Grünen als Zucker-Verbotspartei angreift, dann müssen wir Annalena Baerbock doch die Gelegenheit geben, diese Vorwürfe zu kontern. Vielleicht in Form eines Streitgesprächs der beiden in der Backstube einer mittelständischen Handwerksbäckerei.“
„Nicht zu vergessen“, warf Florian Sanftleben ein, „dass die CDU mit ihrem Slogan „Deutschland gemeinsam backen“ die Solidargemeinschaft deutscher Kuchenesser anspricht und damit versucht, der AfD, die sich als Streuselkuchenpartei der kleinen Leute inszeniert, den Wind aus dem Beutel zu nehmen.“
„Genug des Geredes!“ Heribert Müller erhob sich schwerfällig, rülpste ganz ungeniert langanhaltend und genüsslich und beendete die Konferenz mit der eindringlichen Aufforderung, sich jetzt an die Arbeit zu machen. „Oder wie Markus Söder auf Fränkisch sagen würde: ‚Backen wir’s an!‘“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Wahlprogramm der FDP
Alles lässt sich ändern – außer der Schuldenbremse
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“
Migration auf dem Ärmelkanal
Effizienz mit Todesfolge