Die Wahrheit: Im politischen Auge des Orkans
Wahlkampf-Endspurt mit Superkräften: Was treiben die Kandidaten drei Wochen vor der Bundestagswahl? Ein wahrer Realitätscheck.
Armin Laschet hebt spöttisch seine linke Augenbraue, als eine der hübscheren Damen aus seinem Team schlotternd die neuesten Umfrageergebnisse referiert. Um das Mädel in seiner ganzen Pracht genauer zu begutachten, hievt sich der kleinwüchsige Unionskandidat sogar einen halben Meter aus seinem Chefsessel und schnalzt sodann genießerisch mit der Zunge. Wenn er das alles richtig verstanden hat, sind seine Aussichten zwar nicht glänzend. Für einen Überraschungssieg in letzter Sekunde dürfte es aber reichen – die Deutschen haben noch nie freiwillig einen bekennenden Kommunisten ins Kanzleramt entsandt, wie Olaf Scholz einer ist. Mit Umfrageliebling und Sozialistenfresser Friedrich Merz als Joker an seiner Seite hat er zu Wochenbeginn sogar einen echten Coup zur rechten Zeit gelandet.
Eine Woche nach dem Triell bei RTL schwebt der Mann aus der Eifel ohnehin noch auf Wolke 9: Er hat sich nicht blamiert, keine größeren Fehler begangen. Also hat er angesichts der Übermacht der Feinde (immerhin zwei gegen einen!) quasi gewonnen. Der Laschet ist nämlich bei Weitem nicht so dumm, wie er aussieht, grinst er selbstironisch in sich hinein, sondern nochmals dümmer! Vor allem verfügt er über zweierlei: Gelassenheit, Humor und die Weisheit, die im Herzen wohnt und vielleicht von seinem hohen Blutdruck herrührt. Beide lassen ihn jedenfalls stets intuitiv das Richtige tun.
Augenzwinkernd sagt er zur Referentin: „Sehr interessant, legen Sie’s hier auf den Stapel Papiere, Mäuschen. Ich lese es mir später durch!“ Dabei hat er schon wieder das Gefühl, genau das Richtige getan zu haben. Zufrieden lächelt er, ehe er die amüsierten Mitarbeiter zurück an die Arbeit schickt und gespannt seinem Magenknurren lauscht. Denn man höre und staune: Ausgerechnet der Laschet, dem immer vorgeworfen wird, er lasse es an großen Visionen fehlen, experimentiert mittlerweile mit – Intervallfasten! Die werden am Wahltag ganz schön Augen machen, was für ein rundumerneuerter Laschet da als künftiger Kanzler durchs Scheinwerferlicht tanzt, vor allem dieser bekloppte Markus Söder!
Die Demut der Annalena
Annalena Baerbock wird soeben mit lautem Jubel empfangen, als sie vom Laufen in die Wahlkampfzentrale zurückkehrt. „Du liegst in der Kanzlerfrage acht Punkte vor Laschet“, eröffnet ihr Bundesgeschäftsführer Kellner und reicht ihr ein Handtuch. „Strike!“, ruft Baerbock erschöpft und lässt sich in ihren Bürostuhl gleiten. Sie läuft nicht gern, schon gar nicht in diesen quietschbunten Klamotten, hat sich den Quatsch aber von ihrer Public-Relations-Agentur aufschwatzen lassen, weil das beim Bürger angeblich gut ankommt. Die Nachricht jedoch hört sie gern. Ihr ist ohnehin inzwischen alles recht.
Nach dem brutalen Absturz der vergangenen Monate geht es ihr jetzt lediglich darum, das Grünen-Ergebnis von 2017 zu toppen. Da ist sie realistisch. Irgendwie wird schon eine grüne Regierungsbeteiligung dabei herausspringen. Vielleicht hat ja der von den Medien unisono hochgelobte Habeck gleich zu Beginn der neuen Legislatur schon Lust auf ein Ministeramt in einem Kabinett Scholz? Ganz bestimmt sogar! Dieser Wahlkampf, in dem sie wegen ein paar kleinen Fehlern und Unprofessionalitäten in der Vergangenheit an Bosheit, Niedertracht und Frauenfeindlichkeit ganz schön was einstecken musste, hat sie jedenfalls Demut gelehrt.
Baerbock lehnt sich zurück und beobachtet das bunte Treiben rund um den zentralen Bürodrucker – die Ruhe selbst inmitten des abflauenden Orkans. Nachdem sie in den Turbulenzen der zurückliegenden Zeit ihre privaten Gefühle einigermaßen im Zaum hielt, weil man das als Profi nun mal so macht, erlaubt sie sich jetzt erst die Rückkehr zu einer Politik der Nadelstiche. Sie lächelt maliziös, wenn sie daran denkt, wie sie einige ungalante Personen bei Facebook klammheimlich entfreundet hat, andere bei Insta sogar blockiert. Ihre größte Sorge im Augenblick: Wie wird die gescheiterte Kanzlerkandidatur in ihrem Lebenslauf wirken? Wird sie von potenziellen Arbeitgebern überhaupt noch zu Vorstellungsgesprächen eingeladen?
Die Pläne der Angela
Im Kanzleramt am Spreebogen ist Angela Merkel derweil mit ihren eigenen Plänen beschäftigt. Zum Abschluss einer grandiosen sechzehnjährigen Karriere möchte sie das Land noch einmal tüchtig mit Flüchtlingen fluten, um es für die Zukunft fit zu machen. Afghanistan bietet ihr dazu den willkommenen Anlass. Ihrem treuen Vizekanzler und Finanzminister hat sie mit der deutlichen Warnung vor seinem heimlichen Kommunismus in der vergangenen Woche noch einmal öffentlichkeitswirksam einen reingewürgt und damit ihre Loyalität zum konfusen Laschet und seiner Partei unter Beweis gestellt. Jetzt bleibt der großen alten Dame der deutschen Nachkriegspolitik eigentlich nur noch, die Herrschaft der Reptiloiden vorzubereiten. Und das bedeutet letztlich dann doch: Olaf Scholz zu ihrem Nachfolger zu machen …
Die Realität des Olafs
Und das geheime Kraftzentrum dieses Wahlkampfs liegt selbstverständlich in Olaf Scholz’ Kopf. Es ist ein Realitätsprojektor, der die empirische Wirklichkeit gemäß den Wünschen und Vorstellungen des sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten formt und umformt. Was nämlich kaum jemand weiß: Der lange Zeit als dröge verspottete und in den Umfragen weit abgeschlagene Hamburger verfügt über einzigartige Superkräfte.
Aus diesem Grund läuft für Scholz, der wie so viele Superhelden in seiner Freizeit wie ein Superlangeweiler wirkt, alles bestens, nämlich auf die Kanzlerschaft zu. Der sozialdemokratische Kandidat sitzt abends mit einem Rudel Journalisten auf der Terrasse des Borchardts und lässt sich ein Riesenschnitzel schmecken. Heiter lässt er auch alle Fragen zu dieser Cum-ex-Scheiße an sich abperlen, trinkt ein paar Bier, wischt die Fragen zu Polizeigewalt und seiner Rolle beim G20-Gipfel in Hamburg ebenfalls beiseite wie die Mücken, die sich an diesem Spätsommerabend auf seine Unterarme setzen. Das alles interessiert doch kein Schwein mehr, denkt er und lächelt fein; es stärkt ihm bei der überwiegend autoritären Wählerschaft eher den Rücken.
Er hat eben alles genau getimt. Exakt zum richtigen Zeitpunkt hatten sich die beiden Rivalen selbst zerlegt, nun, drei Wochen vor der Wahl, kann er die Früchte ernten. In der knappen Zeit würden die beiden Pflaumen nichts Entscheidendes mehr bewegen können, und vor allem: Die Briefwahl läuft ja schon! Er hat also auch das psychologische Momentum abgepasst.
Und so schaltet Olaf Scholz zum Abschluss des Tages mit einem doppelten Grappa den Projektor in seinem Kopf aus, und wir anderen können auch endlich schlafen gehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen