Die Wahrheit: Wer den Staub sät …
Ein niederländischer Forscher studiert seit Jahren konstruktive Effekte fortschreitender Verwahrlosung im heimischen Umfeld.
Staubwachstum stagniert nach 23 Jahren des Wohnens in ein und derselben Behausung. Das hat vor Kurzem die University Wilmington of Massachusetts publiziert. Wer also ein wenig Geduld aufbringt, kann pünktlich zu diesem Termin das Staubwischen ein für alle Mal einstellen. Und vorher natürlich auch.
Diese noch bahnbrechendere Erkenntnis geht auf das intensive Selbststudium des Holländers Mess van de Berg zurück. Der 69-Jährige forscht seit Jahren in teilnehmender Beobachtung zu den konstruktiven Effekten der Verwahrlosung. Er hat errechnet, dass sich der Verzicht auf täglich zehn Minuten unnötigen Staubwischens in den oben angeführten 23 Jahren auf beinahe 1.400 Minuten summiert. „Das ist fast ein ganzer Tag! Menschen, die bisher 20 Minuten entstauben, sparen sogar zwei Tage“, jubiliert van de Berg, den wir in seiner Bottroper Exilwohnung besuchen.
Mit der so angesparten Zeit gilt es jedoch verantwortungsbewusst umzugehen, rät der akribische Forscher und warnt eindringlich davor, diese Kapazitäten womöglich ins Ausmisten zu investieren. Denn, so van de Berg, „ausnahmslos alle Dinge, die man im Alltag anhäuft, sind nützlich!“ Selbst Pizzaschachteln. Ordentlich übereinandergestapelt und durch konsequentes Sitzen zu einer homogenen Masse gepresst, erwüchsen aus ihnen praktische Hocker. „Sie sitzen gerade auf solchen“, zeigt er freudestrahlend auf die Sitzgelegenheit.
Getränkekisten als Theken
Noch einfacher lassen sich Getränkekisten stapeln. Van de Berg berichtet von wunderschönen Zimmertheken, die dergestalt entstanden sind. Er selbst hat auch eine in seinem Raum, zu der er uns sogleich führt. Gastfreundlich bewirtet er mit Messwein. „Den habe ich von einem befreundeten Pfarrer, der das Getränk wegen der Coronapandemie nicht mehr selbst ausschenken darf.“
Mess van de Berg, Staubforscher
Dank des konsequenten Wegwerfverzichts gestalte sich Wohnraum wie von alleine, so der Wissenschaftler, der auch selbst in seinem bisherigen Leben weder etwas weggeworfen noch irgendein Möbelstück gekauft hat. Van de Berg ist der festen Überzeugung, dass auch Wohnraum ein selbstreferenzielles System ist: „Menschen, die sich diesem natürlichen Wachstum hingeben, das der Wohnlandschaft innewohnt, solche Menschen entpuppen sich auch im Alltag als hingebungsvoller, ja liebevoller. Sie erleben die totale Einheit mit ihrer Umgebung und entwickeln einen vollständig harmonischen Charakter.“
Ein Zustand, von dem Ordnungsfanatiker und Putzteufel meilenweit entfernt seien. „Schauen Sie sich doch diese Marie Kondō an. Diese niederträchtige Hexe“, schimpft van de Berg urplötzlich und soweit es sein harmonisches Wesen gerade noch zulässt. Kondō ist eine japanische Bestselleraufräumautorin. Im Englischen wurde ihr Nachname zum Verb to kondo, das „einen Schrank aufräumen“ bedeutet. Besonders empörend empfindet es Mess van de Berg, dass diese „Ordnungspropheten“ Leute wie ihn als Messie verunglimpften.
Dabei sei es doch gerade das Bewahrende und Behütende, das den Menschen seit jeher ausmache. „Unsere Vorfahren waren samt und sonders Sammler und haben durch ihre bewusste Entsorgungsvermeidung Grundlagen für die archäologische Forschung von heute geschaffen.“ Unwissende wie Kondō würden das vollständig ausblenden, so der ursprünglich aus Eindhoven stammende Experte.
Abgesehen davon, sei solchen Ignoranten auch nicht bewusst, dass der Begriff Messie vom deutschen Wort Messe abstamme. „Messies schaffen demnach Märkte und sorgen für Wirtschaftswachstum“, argumentiert Mess van de Berg. Im Übrigen leite sich sein Vorname keineswegs vom Messie ab. „Der stammt vom Messias ab. Meine Eltern waren sehr gläubig.“
Kuchen unterm Speichenrad
Nachdem der Forscher uns und sich zum Abschied „sehr alten“ Mescal in ausgespülten Gurkengläsern serviert und dazu Kuchen reicht, den er mit einem Speichenrad in gleich große Teile portioniert, sollen wir uns unbedingt noch seinen „Vorratsraum“ ansehen. Dazu führt er uns auf einen überfüllten Dachboden.
Van de Berg strahlt für einen Moment übers ganze Gesicht vor Stolz, als er uns seine Altersvorsorge präsentiert. Sie besteht ausschließlich aus Pfandflaschen. In nicht für den Tresenbau verwendeten Kisten stapeln sich die Flaschen bis unter den Giebel. „Leider habe ich nur einen einzigen Dachboden, und so fehlt mir für die nachhaltige Altersabsicherung der Platz.“ Demnächst müsse er wohl noch externe Lagerräume in Beschlag nehmen.
Mess van de Berg schnäuzt sich zum Abschied nachdenklich in eine Bananenschale.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Rückzug von Marco Wanderwitz
Die Bedrohten
Repression gegen die linke Szene
Angst als politisches Kalkül