Die Wahrheit: Ein Füllhorn voller Füllwörter

Was kommt nach dem Rassismus? Der finale Kulturkampf um die „Hurenkinder“ und „Schusterjungs“ hat bereits begonnen.

Comic, in dem ein Obdachloser eine Münze gespendet bekommt.

Illustration: Ari Plikat

Heinrich Heine verabscheute das Wörtchen „gerne“. Für den gebürtigen Düsseldorfer und späteren Parisien befleckte der aus der Berliner Gossensprache des 19. Jahrhunderts hervorgekrochene kleine Gernegroß die Nachtigallenpracht seines Wintermärchens. Besonders stach dem Dichter die langgezogene Betonung der zweiten Silbe „ne“ ins Ohr, weil sie die positive Bedeutung ins verneinende Gegenteil verkehrte: „Die mir den blanken Namen gern besudeln / Und mich so gerne ins Verderben züngeln.“ Heute hat das „gerne“ längst alle Gesprächsebenen durchdrungen. Bedankt sich wer bei Kellnern im Restaurant für den Service oder bei Politikern im Fernsehen für das Interview, wird unisono geantwortet: „Ger-nee!“ Und Heine rotiert immer noch vor Wut in seiner Pariser Matratzengruft.

Kurt Tucholsky verachtete das Wörtchen „vielleicht“. Für den zu Beginn des 20. Jahrhunderts Quarkköpfe am Nebentisch belauschenden Berliner war das Vage des Adverbs unerträglich. Dauernd musste er das unveränderliche Umstandswort verwenden, obwohl es unabänderlich war: „Manchmal dämmert eine Ahnung auf, das vielleicht lieber doch zu unterlassen.“ Widerwillig arrangierte sich Tucholsky über die Jahre mit dem Uneindeutigen: „Vielleicht. Vielleicht. Mit der Zeit … mit der Zeit …“ Heute singen AnnenMayKantereit, „dass es vielleicht, vielleicht / Für immer so bleibt / Ja, es ist leicht, leicht, leicht, leicht …“ Eine leichte Muse, die olle Kucht vielleicht gemocht hätte.

Gerhard Henschel hasst das Wörtchen „etwa“. Für den größten Umzieher aller Zeiten, der schon in vielen Häfen vor Anker gegangen ist, verschleiert das Ungefähre des Nebelworts seine klaren Absichten. In den neunziger Jahren schrieb er einmal eine Ansichtskarte aus der „Universitätsstadt Göttingen“, um anzuzeigen, wo er gelandet war, aber auch um bitterlich zu schimpfen: „Bitte, bitte, bitte redigiere mir nie wieder ein ‚etwa‘ irgendwo rein (‚So sucht etwa …‘). Versprochen? Ich bin etwa-Hasser.“ Das „Hasser“ unterstrichen. Heute hätte das arme verhasste Wörtchen längst eine Leidens-Community gegründet und wäre vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag gezogen, um Henschel eines Hassverbrechens wider die hehre Wortidentität anzuklagen.

Männliche Probleme in den Wechseljahren des Kulturkampfs

Worthass – eine beliebte Marotte aller Berufsschreiber. Suchen sie doch jeden Tag verbissen nach immer neuen „selbstständigen sprachlichen Einheiten“. Aber Moment! Halt! Stopp! Sind die drei zitierten Großschriftsteller nicht wieder nur Beispiele für alte weiße Männer? Und deren typische Probleme in den Wechseljahren des Kulturkampfs? Gibt es momentan keine wichtigeren sprachlichen Konflikte? Hassenswertere Begriffe? Wie das weltberühmte N-Wort? Das all die jungen, diversen Kolumnist:­_*Innen derzeit zu Recht vehement anprangern? Aber was kommt nach dem Rassismus für die hippen Autor:_*Innen? Was ist ihr Ziel nach dem letzten Schrei – rein sprachlich?

Wenn das schicke Ego-Shooter-Thema „Ich, Ich, Ich und meine Körperhülle“ in allen irisierenden Facetten ausgeleuchtet ist und sämtliche rassistischen Benennungen mit dem glühenden Tabueisen des Zorns gebrandmarkt sind, dann müssen sich die woken Empörwesen um etwas völlig Neues kümmern. Warum dann nicht die Kleinsten der Kleinen beschützen? Die voll auf ihrer roten Linie liegen, da Floskeln ähnlich wie das von ihnen bevorzugte Gendern Texte satt aufschwemmen. Statt ständig nur gemeine Äußerungen aus dem gängigen Vokabular zu verbannen, könnten die Sprachbilderstürmer die bei kartoffeligen Schreiberlingen verhassten Füllwörter retten, die der altbackene Duden naserümpfend Wörter „mit geringem Aussagewert“ und „zum Verständnis des Kontextes nicht notwendig“ nennt. Als notorische Exemplare gelten: „gar“, „ja“, „also“ und „halt“.

Also, Wokeistas! Steht auf zur Verteidigung des Füllworts! Kämpft für die Abtönungspartikel! Jene wundersamen Sprachsplitter, die unermesslich reich im Deutschen vertreten sind. Sie verleihen der bedrohlich harten deutschen Zunge ihre sanfte Geschmeidigkeit: „Ja, ist es denn die Möglichkeit?!“ Das „denn“ braucht kein Mensch, aber der untergründig aggressive Satz bekommt einen fast zarten Klang. Da muss gar niemand große Abtöne spucken.

Setzt euch ein für „Hurenkinder“ und „Schusterjungs“! Diese aus der derben Druckersprache stammenden, in der Fußgängerzone der Publizistik herumlungernden Punks. Die am liebsten in Zeitungen ihr freches Unwesen treiben. Dann steht die letzte Zeile eines Absatzes oben auf einer neuen Spalte. Oder die erste Zeile eines Absatzes unten am Ende einer Spalte.

Bislang beseitigen brutale Textmeuchler diese angeblich unästhetischen Druckbildfehler mithilfe der unschuldigen Füllwörter, indem die wuseligen Kleinstkreaturen beim Kürzen eines Textes gegeneinander ausgespielt werden. Oder eiskalte Layouter spationieren am Computer knallhart den Durchschuss der Zeilen. Das ist der digitale Todeskuss für „Hurenkinder“ und „Schusterjungs“: Ein Durchschuss, ein Schrei, und alles ist vorbei.

Keine „Hurenkinder“ in digitalen Zeitungsformaten

Wenn erst eines nahen Tages die analogen Druckerzeugnisse eingestellt und alle Zeitungsformate in die digitalen Apps gewandert sind, wird es in Artikeln, die Leser nur noch rauf und runter scrollen, keine Nebenspalten mehr geben, in denen sich „Hurenkinder“ und „Schusterjungs“ herumtreiben können. Die vorwitzigen Missgeburten existieren auf modernen Lesegeräten nicht mehr. Ihre respektlose Art, ungeniert selbst in wichtigsten Texten aufzutauchen, stirbt aus.

Wehrt euch gegen die technische Allmacht! Leistet Widerstand! Rettet das „Hurenkind“! Gebt dem „Schusterjungen“ ein Asyl! Statt sie zur Fahndung auszuschreiben und ihnen ihre brüchige Existenz streitig zu machen, muss den Gefährdeten dringend Schutz gewährt werden vor ihren journalistischen Verfolgern. Schließlich verweist schon der Name „Hurenkind“ auf ein strukturelles Opfer aus einer unterprivilegierten Randgruppe. Dessen Mutter nicht weniger ehrenwert ist, nur weil sie dem ältesten Beruf der Welt nachgeht. Denn es gibt immer noch mehr ehrliche Huren als ehrliche Moralisten.

Fördert die Fehler! Baut sie in die Apps und E-Papers ein! In der Abweichung von der Norm ist der sprachliche Widerspruch verankert, der den Reiz der Wörter, ihres Gebrauchs und ihrer Wirkung ausmacht. Streitet um jede noch so winzige grammatikalische oder stilistische Macke! Denn wenn die Fehler nicht mehr Fehler sein dürfen, dann wird das Überflüssige verloren sein in der Zeit wie Tränen im Regen. Dann bleibt nur, dem Makel vielleicht, etwa, gerne nachzutrauern.

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kari

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