Die Wahrheit: Widerstand gegen die bösen Mächte
Ein Vorderhaus im Berliner Wedding ist im Auftrag des Herrn unterwegs. Wer die „Christen im Widerstand“ in der Hütte hat, ist von Gott verlassen.
D as Mietshaus im Berliner Wedding, in dem ich seit über zwanzig Jahren lebe, hat sich etwas überraschend als Zentrum des Widerstands entpuppt. Das war es in gewisser Weise schon immer: im Widerstand gegen Mülltrennung, Jobcenter und die dysfunktionale Hausverwaltung. Und im Spätkauf kämpfen wackere Rebellen gegen das Sonntagsverkaufsverbot.
Aber nun haben wir eine Schippe draufgelegt. Jetzt setzen wir uns gegen einen „Plan des Teufels, der gerade im Gange ist“, zur Wehr, denn „böse Mächte wollen weltweit Menschen einschüchtern und versklaven und unter Kontrolle bringen“. Und wer sind die Handlanger dieser bösen Mächte? Natürlich: Merkel, Spahn & Co., die apokalyptischen Reiter aus dem Münsterland und der Uckermark.
Doch man darf sich nicht täuschen lassen von ihrem bräsigen Äußeren: Mit der von ihnen erfundenen Coronakrise stehen sie kurz vor der Erringung der Weltherrschaft, ganz Gallien scheint besetzt, nur ein letztes Vorderhaus im Berliner Wedding leistet tapfer Widerstand und ist im Auftrag des Herrn unterwegs – nur leider mit viel schlechterer Musik. Kurz: Wir haben die „Christen im Widerstand“ in der Hütte.
Vor Corona standen sie nur mit erhobenen Händen und vor Verzückung verdrehten Augen in einem Singekreis in ihrem Bet-Café herum und priesen den Herrn mit selbst geschriebenen Liedern, bei denen sich die Ratten angstvoll quiekend im Keller verbarrikadierten. Heute jedoch stellen sie sich in eine Reihe mit „Dietrich Bonhoeffer, Paul Schneider, Pastor Niemöller“, denn „in der Nazizeit in Deutschland sind das die einzigen Leute, die heute in den Geschichtsbüchern als positive Charaktere eingegangen sind, die Christen, die damals im Widerstand waren“, und deswegen nennen sie sich halt so. Womit immerhin geklärt wäre, dass sie sich nicht wie Anne Frank fühlen, denn die war ja nur Jüdin.
Nun wäre zu fragen, warum „Satans reale Pläne“ offenbar bis heute zwar die ganze Welt stilllegen, aber ausgerechnet nichts gegen ein paar Knallchargen mit Schellenkranz auszurichten vermögen. Ganz offensichtlich arbeitet der Teufel bei der Umsetzung ähnlich schlampig wie Jens Spahn bei der Impf- und Testkampagne. Nach dem Regierungs- nun auch noch Höllenversagen – gutes Personal ist wirklich schwer zu finden.
Was ich inzwischen persönlich nehme, denn unsere Vorderhauschristen haben jetzt „mit Gottes Hilfe“ und „25.000 Euro“ geschlagene „100.000 hochwertige und ansprechende“ Anti-Impf-Broschüren drucken lassen, die sie aus ihrem Widerstandsnest in die Welt versenden. Mit den Hunderten von Pappkartons, in denen die Dinger angeliefert wurden, verstopfen sie seit zwei Wochen unsere blaue Tonne im Hof, während ich in meinem Stapel ausgelesener tazzen zu ersticken drohe wie ein Covid-19-Patient.
Im Widerstand – pah! Die Unterdrückten früherer Diktaturen hätten mit ihren Schriften jedenfalls nicht die blaue Tonne vollmachen können.
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