Die Wahrheit: Musik mangelhaft
Der Notenschlüssel hängt schief in deutschen Grundschulen. Es fehlen derzeit landauf, landab bis zu 23.000 Musiklehrer.
In den Grundschulen fehlen die Musiklehrer. Die Gründe dafür sind vielfältig. Immer öfter entscheiden sich Studierende gegen den didaktischen Weg und versuchen, als freischaffende Musiker zu leben. Einmal einen Jingle für den Deutschlandfunk gestalten oder gar eine Neuinterpretation von „Peter und der Wolf“ für die derzeit virtuelle Landesbühne auf die Beine stellen, davon träumt so ziemlich jeder Lehramtsmusiker. Deswegen bleiben sie in der Regel auch alle weitestgehend unter sich und verschmähen den Schuldienst für Anfänger.
Währenddessen aber bekommen die so alleingelassenen Kinder an den Orff-Instrumenten keinen geraden Ton mehr heraus und scheppern unrhythmisch vor sich hin. Also versuchen Ersatzlehrkräfte ihr Bestes.
„Manchmal frage ich mich, wer hier der Musiker ist“, sagt Chemielehrer Leitner, der gerade die Klasse 4c der Grund-und Mittelschule Deggendorf an die Musiktheorie heranführen soll. „Die Vorarbeit, die meine Kollegin geleistet hat, in allen Ehren, aber das ist doch alles unvollständig hier: Acht Noten habe ich in ihrem System gefunden. Ich habe mit den Kindern erst einmal alle 26 Noten von A bis Z nachholen müssen.“
Allgemeine Verlotterung
Der volkswirtschaftliche Schaden durch die allgemeine Verlotterung des Musikunterrichts ist immens. Alois Brunsbichler ist staatlich geprüfter Beatmacher der Beat-Manufaktur Brunsbichler im bayerischen Waldkraiburg. Hier werden seit 1826 Beats aus erster Hand gefertigt und in alle Welt exportiert. Brunsbichler hat Beats für Popstars wie Diether Dehm, Michael Wendler und die Münchner Freiheit komponiert. Ohne eine astreine Grundbildung bis Klasse vier wäre das kaum zu bewerkstelligen gewesen, sagt er. Doch: „Seit Jahren finden wir keine geeigneten Kandidaten mehr für unsere Ausbildung.“ Die Ausbildung zum Beatmacher dauert drei Jahre; zweieinhalb, weist man ein Straßenmusikerpraktikum vor.
Seit Jahren würde aber in der musikalischen Bildung am Markt vorbeigedacht, so Brunsbichler. „Ich habe 16-Jährige vor mir, die erzählen mir, was Mozart sich zum Frühstück aufs Brot geschmiert hat und wo Beethoven seine Ohropax gekauft hat, können mir aber nicht den Unterschied zwischen einem Boom-Bap-Beat und einem Trap-Sample erklären.“
In der Klasse 4c versucht sich Melanie-Saskia unterdessen daran, die Melodie von „Over the Rainbow“ zu spielen. Mit dem Schlagzeug. Malte-Jochen begleitet sie auf dem Schellenkranz, den er mit dem Mund bedient. Aushilfslehrer Leitner nickt arhythmisch mit und kann sich ein stolzes Tränchen nach dem Schlussapplaus nicht verkneifen. „Vor einer Woche haben sie noch nicht einmal das Periodensystem spielen können – und jetzt das!“, säuselt er, nimmt die Brille von der Nase und reibt sich das Auge mit der Gesichtsmaske trocken.
Unharmonisch im Chor
Auf einmal klopft es im Sechsachteltakt an der Tür: Träge, aber in gleichbleibendem Tempo schlurft kurz darauf eine sichtlich gebrochene Frau mittleren Alters herein, ihr getöntes Haar hat jeden Glanz verloren. „Frau Heintz!“, rufen die Kinder unharmonisch im Chor. Die Telekom habe ihren Jingle für die Warteschleifen-Sounddatenbank abgelehnt, erzählt Frau Heintz, die seit Monaten nicht mehr zum Unterricht erschienen ist, wenig später. „Sechs Jahre Arbeit umsonst!“, schluchzt sie. Die Perlen ihres Holzarmbands klackern, als sie sich die Hände vors Gesicht wirft und in Tränen ausbricht.
Schließlich bemüht sie sich um Fassung. „Also gut, Kinder! Zurück an die Arbeit!“, ruft sie nun in den Raum, als sei nie etwas gewesen. „‚Corona – das Musical‘ inszeniert sich nicht von alleine!“ Die Kinderaugen leuchten, während Chemielehrer Leitner geknickt den Raum verlässt und Frau Heintz schon mal den „Chor der Hustenden“ arrangiert.
„Das wird groß!“, hallt es durch das gesamte Schulgebäude. Erste, dumpfe Xylophonschläge erklingen zum Röchelsound der Kinder. Und zumindest die 4c hat in Sachen Musik ab heute wieder eine Zukunft.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Berliner Kultur von Kürzungen bedroht
Was wird aus Berlin, wenn der kulturelle Humus vertrocknet?
Argentiniens Präsident Javier Milei
Schnell zum Italiener gemacht
Bundestagswahlkampf der Berliner Grünen
Vorwürfe gegen Parlamentarier