Die Wahrheit: Pappelapapp

Am Horizont über den Dächern wiegt sich ein Baum im Wind und streckt vorwitzig seine verästelten Fühler aus – bis er eines Tages weg ist.

Gerade war er doch noch da. Das ist mir allerdings erst später aufgefallen. Und da war es zu spät. Da war er weg. Mein Freund, der Baum. Nicht, dass ich zu Bäumen ein kosendes, sie umfassendes Verhältnis habe; nein, ich bin nicht die Frau, die Bäume umarmt, nicht die Frau aus den touché-Streifen hier.

Aber schön war er schon, der Baum. Ich mochte ihn, weil er der einzige Grüne am Horizont unserer Wohnung im fünften Stock war. Ein paar Jahre ist es erst her, da hatte er zum ersten Mal und vorwitzig seine verästelten Fühler ausgestreckt über das nach Westen gelegene Berliner Flachdach, hatte den hässlichen gen Himmel strebenden Aufzugkasten daneben mit seiner botanischen Anwesenheit beehrt.

Pflanzengattung? War aus der Ferne anfangs nicht bestimmbar, auch ein Fernglas verhieß nur „grüner junger Baum“. Dass aus dem Hänfling innert Jahren ein formidables Großgewächs werden würde, ahnte ich damals noch nicht. Wenigstens konnte ich aber zwei Jahre später und dank früherem bayerischen Lieblingsschulfach „Heimat- und Sachkunde“ fehlerfrei ermitteln, dass es sich um eine Pappel, wissenschaftlich populus, handelte.

Ich liebe Pappeln. Ihnen ist ein Rauschen eigen, das den Wind adelt. Ich mag Wind nur, wenn er durch Pappeln streicht. Diese lag jedoch zu weit weg, um ihrem gemütvollen Rauschen vom Balkon zu lauschen. Außerdem nahm sie mir bei einem bestimmten herbstlichen Sonnenstand das letzte wärmende Abendlicht weg. Doch trotzdem, ich stand auf die Pappel.

Ganz persönliche Königin am Horziont

Wo aber stand sie eigentlich? Wo war ihr Erdreich, wo ihre Meldeadresse? Mit dem perspektivischen Blick in die Ferne ist es ja so eine Sache, schnell verhaut sich das menschliche Auge bei Distanzen, Abmessungen und Lokalisierungen von Gegenständen, Gebäuden oder geliebten Menschen. Felsenfest davon überzeugt, dass jene populus in der nächstliegenden Querstraße ansässig war, erkor ich bei einem Gang durch die Gemeinde denn auch eine herrlich hochwüchsige, ausladende Pappel zu meiner ganz persönlichen Königin am Horizont.

Dann fuhr ich auf ein Kaltgetränk nach Paris. Retour zu Hause saß ich des Nachts auf dem Balkon und fand die Berliner Luft besser als die Pariser Luftverschmutzung. Sie kam mir an jenem Abend gar nicht in den Sinn, ich konnte sie auch gar nicht in den Augen haben. Denn die Pappel am Horizont war weg, das stellte ich des Morgens mir die Augen reibend fest.

Bedröppelt schlich ich in die Querstraße, dort wo ich sie ausgemacht hatte. Die Pappel stand da wie eine Eins. Ich zuckte zusammen. Handelte es sich hier um eine quicklebendige Fata Morgana? „Suchen Sie was?“, fragte ein Spätkaufstammgast, der tagaus, tagein einen Klappstuhl auf der Straße frequentiert. „Ich suche einen Baum, gerade war er noch da. Am Horizont, Sie verstehen?“ Der Mann verstand sofort. „Ach, die Pappel vom Bolzplatz um die Ecke. Die musstense fällen, die wär beinah auf die Kinder gefallen.“

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Seit 2013 bei der taz-Wahrheit, zeitweise auch Themenchefin in der Regie und Redaktionsrätin. Außerdem Autorin mit Schwerpunkt Frankreich-Themen

ist die einzige Satire- und Humorseite einer Tageszeitung weltweit. Sie hat den ©Tom. Und drei Grundsätze.

kari

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