Die Wahrheit: Das chinesische Geheimrezept
Vorsicht beim Take-away: So manch köstlich scheinende Soße basiert vielleicht nur auf nicht ganz so korrekten Zutaten. Am Ende ist es nur Ketchup.
V on China lernen heißt in diesen Tagen offensichtlich siegen lernen. Auch ich möchte meinen Blick aus didaktischen Gründen heute in den fernen Osten richten. Und zwar war ich neulich unangenehm berührt, als ich zufällig in die Ausgabeluke des von mir geschätzten Bistro Hong Kong schaute. Dort musste ich nämlich mit ansehen, wie der Chinese eine Portion der von mir ebenfalls geschätzten Gung-Bao-Soße zubereitete – meine Portion.
Da das an einer belebten Einkaufsstraße gelegene Bistro schon seit vielen Jahren Ausgabeluke an Ausgabeluke mit einem für seine Qualität und günstigen Preis gleichfalls berühmten Thai-Imbiss zu koexistieren vermochte und auch viel von originalen Chinesen frequentiert wurde, dachte ich eigentlich, dass in dieser beliebten Garküche viel mit frischen Originalzutaten und chinesischen Geheimrezepten gearbeitet wird.
Der junge Chinamann indes, den ich durch die enge Ausgabeluke beobachtete, klatschte als Erstes, als Grundlage der Soße also, eine volle Schöpfkelle einer roten Substanz in den Wok, die aus einem Plastikeimer unter der Kochstätte stammte, einem Eimer, der seinen Inhalt bei näherer Betrachtung deutlich als Tomatenketchup der Marke Kraft zu erkennen gab.
Ich war so unangenehm berührt, als hätte ich einen guten Freund bei einer unanständigen Handlung ertappt; gleichzeitig fühlte ich mich aber auch hintergangen, regelrecht abgezockt. „Das ist also euer Geheimrezept?“, wollte ich den Freunden aus dem Land des Lächelns entgegenschleudern, „Scheißtomatenketchup?!“, was ich jedoch aus angeborener Höflichkeit unterließ, obwohl der Groll weiter in mir tobte.
Sekundenschnell zur Nagelprobe
Trotzdem bestellte ich mein Gericht mit der Gung-Bao-Soße nicht ab, da ich gerade diese stets als außerordentlich köstlich empfunden hatte und es nun, so fasste ich sekundenschnell meinen Entschluss, auf eine Nagelprobe ankommen lassen wollte. Ich nahm das verpackte Gericht also weise in mich hineinlächelnd entgegen und bezahlte klaglos.
Als ich das entpackte Essen schließlich am Schreibtisch verzehrte und dabei konzentriert verköstigte, war ich wieder einmal hingerissen: Das Gemüse war knackig, die Soße super, und das ganze Wissen um ihre düstere Herkunft konnte mir den Genuss nicht verleiden.
Und außerdem, so dachte ich mir, ist die Soße ja vielleicht nicht trotz, sondern wegen des Kraft-Tomatenketchups so vorzüglich. Im HipHop greift man ständig auf Samples zurück, im Film auf vorproduziertes Einspielmaterial, im Journalismus fast ausschließlich auf bewährte Phrasen, es herrscht eben Postmoderne. Wenn die bestmögliche Gung-Bao-Soße der Welt als Basis nun einmal ausgerechnet Kraft-Tomatenketchup braucht, dann sei die Belegschaft des Bistro Hong Kong, die just dieses mit sicherer Hand auswählte, über den grünen Klee gelobt dafür, dass sie ihre Soße so ausgezeichnet, wie man das heute nennt, „kuratiert“.
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