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Die WahrheitEndzeitstimmung auf der Endmoräne

René Hamann
Kolumne
von René Hamann

Das Dorf im flachen Bauerwartungsland am Niederrhein muss nicht nur dem Klimawandel trotzen, es verliert auch noch seine letzte Kneipe.

J a, ich komme vom Land, meine Eltern wohnen auf dem Dorf. Allerdings nicht in irgendeinem Dorf, sondern in einem mit Sonderstatus – es gehörte ein paar Jahre lang zu den Niederlanden, ehe es wegen erledigter Reparationszahlungen der BRD zurückgegeben wurde. Und es liegt wahrlich weltabgewandt am Ende der Republik, ein Dorf wie für Schneewittchen gemacht, ein Dorf, das hinter dem einzigen Berg in der weithin meerflachen Landschaft des Niederrheins liegt. Endmoräne, so nennen das die Geologen. Ein Dorf an der Grenze, vom Rhein und der Welt abgewandt, abgewandter geht es nicht.

Nun ist aber Klimawandel, und im angrenzenden Holland wird man langsam nervös. Nicht so im Dorf selbst. Hier betreibt man weiter Landerschließung, wandelt bestellbare Felder zu Bauerwartungsland um und erschafft die deutsch-niederländische Version einer amerikanischen Vorstadt, schön mit Geländewagen auf der Garagenzufahrt mit Basketballkorb. Dass das Dorf einst nur ein ärmliches Bauerndorf gewesen ist, kann man noch hie und da erkennen oder sich beim Diavortrag oder Facebookgruppen-Bildbetrachtungsabend im Gemeindehaus anschauen. Was durchaus interessant ist: Die Menschen auf den alten Bildern zwischen 1910 und 1950 sehen fast ausnahmslos ästhetisch gefordert aus und halten vor wackeligen Bauernhäusern ihre schlechten Zähne ins Bild. Die guten, alten Zeiten!

Inzwischen hat das Dorf nach über 40 Jahren wieder einen Bahnanschluss, interessanter ist es allerdings noch nicht geworden. Zynisch könnte man sagen, dass es erst wieder interessant wird, wenn das Meer kommt. Endmoräne! Der Pool des Bauunternehmers, der unten am Hang wohnt, wird dran glauben müssen; die etwas weiter oben werden sich den Platz mit den Geflüchteten aus Amsterdam teilen müssen. Das wird lustig!

In der nahe gelegenen Kleinstadt hat unterdessen die letzte Jugendkneipe, vielleicht die letz­te Kneipe überhaupt zugemacht. Ich erinnere mich an den Wirt, der Mike Thijssen hieß und das Namensgedächtnis eines Elefanten hatte, er erinnerte sich an den Namen jeder Nase, selbst wenn diese erst nach Jahren ein zweites Mal in der Kneipe aufgetaucht war. Jetzt liegt er unter der Erde, die Lebenserwartung von Wirten ist gering. Die von Kneipen in NRW aber wohl auch. Ich frage mich, ob meine Jugend tatsächlich in die goldenen Zeiten dieser Gegend fiel, oder ob das bloß Romantisierung im Nachhinein ist; und ich frage mich, was die übrig gebliebene Jugend heutzutage macht, wo geht sie hin, wo probiert sie sich aus, wo lernt sie sich kennen? Die guten, alten Zeiten!

Immerhin gibt es neuerdings ein Unternehmen für Sicherheitsschuhe, das wie das Dorf heißt und fleißig Fernsehwerbung macht. Was im Umkehrschluss bedeutet, dass das Dorf nicht viel mehr ist als ein Sicherheitsschuh. Den gebliebenen Menschen scheint er noch zu passen. Mal sehen, wie wasserfest er ist.

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René Hamann
Redakteur Die Wahrheit
schreibt für die taz gern über Sport, Theater, Musik, Alltag, manchmal auch Politik, oft auch Literatur, und schreibt letzteres auch gern einmal selbst.
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