Die Wahrheit: Die Flugschamschamanin
Auf den Malediven treffen sich Millenials zum „International Flygskam Festival“ und arbeiten verschämt an ihrer Klimabilanz.
„Wir wollen gemeinsam unsere Scham feiern“, spricht Gina Löbesauer mit tremolierender Stimme und streut Silberstaub auf ihren Scheitel. Die Bußübung wird von Hunderten Smartphones verfolgt, bis der Tropenwind das glitzernde Mikroplastik aus dem penibel coiffierten Haar der Mittzwanzigerin in die Dünung der Malediveninsel Meerufenfushi weht.
Löbesauer wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel, zäh wie Glycerin rollt sie ihren vom Insta-Filter konturierten Wangenknochen herunter. „So authentisch“, kommentieren ihre Follower am Strand und teilen das Foto der geläuterten Social-Media-Ikone.
Zu einem Festival tätiger Reue, einem „Coachella der Flugscham“, hat die gelernte Emotionsfachwirtin aus Wuppertal auf die Touristeninsel im Indischen Ozean geladen – und viele Millenials sind Löbesauers Ruf gefolgt, nachdem ihre Kampagne „#sweetestshame“ Fahrt aufgenommen hatte. Als ein Celebrity-Endorsement von Luna Marie Schweiger der Sache zusätzliche Glaubwürdigkeit verschaffte, verkauften sich die Tickets binnen Sekunden. „Natürlich ist die Wahl der Location kein Zufall“, erklärt Löbesauer. „Nach einem Langstreckenritt knallt die Flugscham besonders rein, außerdem habe ich nebenbei ein Holiday-Resort zu promoten.“ Sie schlingt das Handtuch mit dem Logo um ihre Schultern und arbeitet an einer Miene, die tiefe Seelenpein, aber auch Cuteness ausdrücken soll.
Ein Gefühl zelebrieren
Die Influencerin zelebriert ein Gefühl, das brandneu im Köcher abendländischer Kulturtechniken steckt. Als Entdeckerin gilt Greta Thunberg, die auch den Klimafreitag und den bohrenden Blick erfunden hat, als erste Flugscham-Probanden bekannt geworden sind die Eltern der Aktivistin, die heute nicht mal mehr Tomatensaft bestellen können, ohne rot zu werden.
Der vom schwedischen „Flygskam“ abgeleitete Begriff bezeichnet ein Gefühl brennender Umweltsorge, das sich bestenfalls vor dem Besteigen weltzerstörender Fluggeräte einstellt – bei den meisten Reisenden aber höchstens danach oder gar nicht. „Die Verzögerung liegt am Jetlag“, beteuert Löbesauer, die als Expertise auf ihr pralles Meilenkonto verweist. „Auch ich musste mir Flugscham mühselig erarbeiten, auf einem weiten Weg zwölfmal um den Äquator.“
Ihre geballte Schamkompetenz will die Flugschamschamanin nun an ihre Follower weitergeben. Mittlerweile fegt ein Sturm über den Strand, wie er in diesen Breiten immer häufiger und heftiger auftritt. Löbesauer zieht sich in die Öko-Lodge zurück, die ihr ein Reiseveranstalter zur Verfügung gestellt hat.
Ihr Gefolge bleibt am Strand zurück und beginnt im Schein der Smartphones erstmals das Kleingedruckte der Festivalpässe zu lesen. Im horrenden Eintrittspreis ist weder Unterkunft noch Verpflegung an der Top-Destination begriffen. In die jungen Gesichter der Teilnehmer des „International Flygskam Festival“ kerbt sich der ungewohnt authentische Ausdruck eines erdrückenden Gefühls. Das muss diese Scham sein, wegen der sie alle angereist sind.
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