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Die WahrheitWas gebraucht wird

Kolumne
von Jürgen Roth

Das, was derzeit in der Welt veranstaltet wird, ist offenes Irrenhaus. Geheiligter Amoklauf. Kanonengesegnete Zertrümmerung.

W as hier veranstaltet wird – und wir verwenden die Passivkonstruktion bewusst, denn es ist ja niemand zuständig, die „Gesetze der Wirtschaft“, sie sind halt so, wie sie sind, gottgegeben, von der Natur verfügt, dem „Geist der Geschichte“ inhärent.

Deshalb braucht es mehr, mehr von allem, mehr „Entwicklung“, mehr „Wachstum“, mehr „Welthandel“, mehr Abiturientenreisen nach Neuseeland, mehr Mobilität, mehr Daten, mehr Fleisch, mehr Fisch, mehr Krabben, mehr Avocados, mehr Schweine und mehr Rinder und mehr Biobenzin und mehr Scheißdreck und mehr Plastik und mehr Blödsinn und mehr „Bildung“ sowieso, es braucht mehr Müll, mehr Medienangebote, mehr Meinungen, mehr Militäreinsätze, mehr Matschköppe und mehr Monstertrucker.

Es braucht mehr, von allem und von jedem, es braucht mehr Dreck, es braucht mehr Druck, es braucht mehr Maßnahmen, wofür und wogegen auch immer, es braucht mehr, ohne das Mehr bewegt sich nichts, entwickelt sich nichts, ohne das Mehr „bleiben wir stehen“ …

Warum bleiben wir eigentlich nicht mal stehen? Wäre das der Tod – stehen zu bleiben und zu gucken, was da ist?

Wir brauchen: mehr Mobilgeräte, mehr Mobilangebote, mehr Mobilwohnungen, wir brauchen mehr mobile Welten, weil die Welt so deppert ist, da zu sein, stehen zu bleiben, still zu verharren, wir müssen alles in Bewegung setzen, wir müssen den Dingen den Marsch blasen, wir müssen die Dinge in Aufruhr versetzen, wir müssen sie aus ihrem Schlaf reißen, sie auf Trab bringen, wir müssen sie hineinzerren in den Strudel des Irrsinns und Wahnwitzes, wir brauchen mehr Ausbeutung, wir brauchen mehr Tötung, wir brauchen mehr Vernichtung, und wir brauchen, ha!: „grünes Wachstum“.

Das, was hier veranstaltet wird, ist offenes Irrenhaus. Geheiligter Amoklauf. Kanonengesegnete Zertrümmerung. Das ist alles, was der Fall ist. Das, was ist, ist das „wissenschaftliche Zeitalter“. Das brauchen wir. Was wir nicht brauchen: Schönheit, Zartheit, Dezenz, Hingabe.

Wir brauchen Arbeit, wir brauchen Märkte, wir brauchen Fußball und das freie Werberadio, wir brauchen das Internet, wir brauchen Preisplattformen und den mündigen Verbraucher, wir brauchen Regeln, wir brauchen Politik, wir brauchen Preiselbeeren aus Chile, wir brauchen „Top-regionen Im Globalen Markt Für Essbare Insekten“, wir brauchen Mind-Stations und Muscle-Farmen, wir brauchen Mystery-Channels und Memory-Websites. Wir brauchen. Wir brauchen alles. Wir brauchen: alles.

Was wir nicht brauchen: Seen mit Röhricht, halb beschattete Wiesen am Mischwaldrand, Auen, Moore, Streuobstwiesen, Säume, krumme Linien, befleckte Flächen, gurgelnde Bäche, lachende Spechte, lästernde Stare, herumkurvende Kiebitze.

Das brauchen wir nicht, weil das niemand braucht. Es braucht auch niemand und nichts zu leben, denn das Leben braucht man nicht. Was zählt, ist der Tod.

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1 Kommentar

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  • Treffende Zustandsbeschreibung. Nur: Brauchen wir sie? Wenn nicht, wieso steht sie geschrieben?