Die Wahrheit: Schicht mit Nachsicht!
In Frankfurt am Main herrscht neuerdings ein Asozialtonfall, der sogar das allerörtliche Kneipensterben mit Hurra begrüßt.
Ich bin gelernter Frankfurter, und als solcher weiß ich die hier obwaltende basale Gelassenheit zu schätzen. Andernfalls würden die in der Regel zurechnungsfähigen Inhabitanten auch irre an all den dieser Stadt immanenten Narrheiten, Torheitstendenzen und Offizialwichtigtuereien. Menschen, die dem jenem bezaubernden Steinhaufen am Main innewohnenden Wahnwitz irgendwann trotzdem nicht mehr standzuhalten vermögen, werden im Taunus gegen den unterdessen anerkannten Morbus frankfurtus behandelt, meist verbunden mit der Empfehlung, nach Magdeburg umzuziehen. Dort gehe es ihnen alsbald besser.
Neulich bin ich durch die sogenannte neue Frankfurter Altstadt spaziert. Man muss es diesem vom feixenden Weltgeist ersonnenen Deppenort lassen: Eine derart verlogen historistische, lächerliche architektonische Aufführung, die zudem all jene Knete verschlungen hat, die für sozialen Wohnungsbau angeblich nicht zur Verfügung steht, bringt nicht mal das dummheitsgestählte Berlin mit seinem Halunkenschloss zuwege. Kein Zweifel: Der von der EU verliehene Spezialpreis „Europäischer Stadtidiot des Jahrtausends“ wird Frankfurt nimmer abzuknöpfen sein.
Man ist als Frankfurter also gemeinhin geübt im Hinnehmen, Achselzucken und Auslachen der eigenen (Wahl-)Heimat. Aber jetzt hat ein Herr Marcel Richters auf der die schöne Meinungsvielfalt und Informationswelt noch mal enorm bereichernden Website merkurist.de einen Artikel unter dem Titel „Lasst die Kneipen endlich sterben“ abgeseilt. Und mit dem langt es nun. Nun ist Schicht mit Nachsicht! Nun hat es Frankfurt zu weit getrieben.
Denn welche Subjekte die ja doch irgendwie buddhistisch und bierbüdchenmäßig gutzuheißende Geisteskloake Frankfurt unterdessen gebiert, möge man sich anhand der Einlassung des Herrn Marcel Richters vor Augen führen oder stemmen. Der Frankfurter Herr Marcel Richters nämlich schreibt: „In Frankfurt sterben die Kneipen. Ob mitten im Bahnhofsviertel oder weit draußen in Sindlingen: keine gemütliche Einkehr mehr zum Schoppentrinken und Vor-sich-hin-Starren, keine verrauchten und schummrigen Schankräume hinter Butzenscheiben mehr. Das ist auch gut so. Zu lange sind Kneipen ein Zufluchtsort vor uns selbst gewesen. Es braucht den Mut, sich von dieser idealisierten Vergangenheit zu lösen.“
Journaillenpestartige Melange
Was das ist? Eine journaillenpestartige Melange aus Wowi Wowereit („auch gut so“), Ernst Jünger („Mut“ zu mehr Champagner) und Christian Lindner (vorwärts in den geschichtsvernichtenden Digitalfuck!). Es ist Ausdruck und Beleg der Herrschaft jener Asozialcharaktere, die im an sämtlichen Blödheitsfronten neuerdings vollkommen entfesselt vorangaloppierenden Frankfurt überall das Maul aufreißen, obwohl sie, Karl Kraus paraphrasierend, besser daran täten, die Straße zu kehren.
Dieser Frankfurter Herr Marcel Richters, dieser Schnösel und Lebensauskenner, dessen Erfahrungsschatz geringer als derjenige eines Brockens Beton ist, fährt fort: „Die Welt um uns herum wandelt sich, da bringt es auch nichts, sich an seinem Bierglas festzuhalten. Und dennoch gibt es viele, die das tun. Warum wird ein Ort, an dem die Unterarme am Tresen in einer Bierpfütze liegen, zu einem Ideal? Was ist so schön daran, in einer Raucherkneipe innerhalb weniger Stunden mehr Feinstaub einzuatmen, als auf der Hanauer Landstraße in einem ganzen Jahr durch die Luft wirbelt?“
Weil vielleicht die gelegentlich aus Unbeholfenheit entstandene Bierpfütze, in die man dieses Frankfurter Herrn Richters (Vorname: Marcel) stramm witternde Zeitgeistnase gern stupste, auf dem Tresen in einer Normalkneipe nach vier Sekunden mit einem Lappen weggewischt worden ist? Und weil man nicht mit Feinstaubmessgeräten durchs Leben geht, sondern mit einem Kopf, in den man ganz gern gesellig Bier hineinfüllt?
Zelotische Gesinnungs-Peers
Man mag diesem Frankfurter Herrn Marcel Richters womöglich zugutehalten, dass er – wie der deutsche Standardjournalist – schlichtweg glaubt, seine Meinung sei das, wonach sich die Wirklichkeit zu richten habe. Und darob tippt er, ein Schwallsüchtiger gleich seinen zelotischen Gesinnungs-Peers, hin: „Niemand“ solle sich „scheinheilig vor die ‚guten alten Schankwirtschaften‘ werfen, wenn es in Wirklichkeit um die eigenen Interessen geht. Wenn sich die Welt wandelt, dann hilft es auch nichts, am Althergebrachten festzuhalten. Dann hilft es nur, etwas Neues zu denken. Für und mit denen, die heute noch hinter vergilbten Spitzengardinen versteckt werden. Dabei werden uns Eckkneipen nicht helfen. Sie sind ein Anker, der uns in einer verklärten Vergangenheit festhält. Ihre Zeit ist vorbei, lasst sie in Frieden sterben.“
Ich latsche gleich in den Deutschen Michel im Gutleutviertel, in einem alten linken Quartier, in dem die Leute in Ruhe gelassen werden und sich verbitten, dass für sie von Herrn Marcel Richters etwas Neues gedacht wird. Im Deutschen Michel verkehrte nicht selten die ehemalige Oberbürgermeisterin Petra Roth von der CDU, trank Pils und rauchte – eine Humanistin.
Auch an den Trinkhallen im Gutleutviertel trifft man tatsächlich: Menschen, verzweifelte, gescheiterte und blitzgescheite. Man kommt ins Gespräch, sofern man mag, und erzählt sich was.
Der spätestkapitalistisch prototypische Frankfurter Herr Marcel Richters, den der tyrannische Auslöschungswunsch eines Antialkoholikers umtreibt, labe sich derweil am Sushi-Green-Tea-Snackpoint in der Hanauer Landstraße, gegenüber der EZB.
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