Die Wahrheit: Der Letzte seiner Art
Das Artensterben geht weiter. Jetzt ist der Unglückswurm dran. Zu Besuch bei seinem glücklosen Retter, der nicht nur leere Fässer zum Überlaufen bringt.
Das Artensterben! So viele haben wir schon verloren! Wer kennt noch den Pfingstochsen und seinen Gegenspieler, den Schmutzfinken? Wer regt sich noch auf über das Riesenross, den Frechdachs und die Naschkatze? Und so viele weitere sind vom Aussterben bedroht: Wo werden Partylöwen noch umschwärmt von Hupfdohlen und Tanzmäusen? Was ist mit dem Bücherwurm? Und kaum hat man sie erwähnt, kämpft sich der Lustmolch ans Tageslicht und schreit unhörbar: „Me Too!“ Wobei er den Schmusekater und den Schweinigel im Schlepptau hat.
Jetzt aber geht es wirklich ans Eingemachte. Neueren Zählungen zufolge ist nun auch der Unglückswurm bedroht. Und nur leichtfertige Hallodris und naive Hänse im Glück können diesen Umstand begrüßen.
Wir sind verabredet mit Dr. Felix Fink, dem Leiter der Initiative zur Rettung des Unglückswurms. Er ist gut und gerne einen Meter fünfundfünfzig groß, hat eine leichte Hühnerbrust und trägt ein dünnes Oberlippenbärtchen. Er empfängt uns in seinem gemütlichen, wenn auch an manchen Stellen etwas derangiert wirkenden Heim in Damelack, Landkreis Ostprignitz.
Der Gulli als Schlüsselbrett
Was genau, so fragen wir, zeichnet den Unglückswurm denn aus? Während er zu seiner engagierten Antwort ansetzt, fegt unser Gastgeber versehentlich das Kaffeegeschirr vom Tisch und setzt dabei unser Aufnahmegerät außer Betrieb. Aber nach dem etwas fahrigen Aufräumen hebt er mit flackerndem Blick an: „Der Unglückswurm steht immer neben der Pfütze, durch die der Lkw brettert. Er lässt das Fenster zuverlässig am Tag mit dem stärksten Sturm und Regen auf. Sein Schlüsselbrett ist der Gulli, seine Smartphone-Hülle das Klo. Er macht die Witze über den Chef, während der direkt hinter ihm steht. Und eine Partie Mikado endet bei ihm stets in einer Katastrophe mit Verletzten.“
Während er spricht, ist sein kleiner Sohn aus der Schule heimgekommen. Obwohl in seinem Haar ein Bonbon klebt, ist er fröhlich und umarmt seinen Papa. Danach klebt der Bonbon in dessen schütterem Haupthaar.
Kann man das also so zusammenfassen, fragen wir ihn: „Der Unglückswurm bringt selbst leere Fässer zum Überlaufen. Seine bevorzugte Frisur ist die Pechsträhne, seine häufigste sportliche Leistung das Eigentor.“ Doktor Fink ist begeistert von unserem Einfühlungsvermögen und den Formulierungen und will sie gleich für sich notieren. Mist – Füllerpatrone leer! Den Rest des Gesprächs absolviert er dann mit großflächigen schwarzen Flecken auf Hemd und Fingern.
Was fasziniert ihn eigentlich so am Unglückswurm, dessen Image ja nicht das Beste ist? Fink führt den Buddhismus ins Feld, der propagiert, dass der Unglückswurm als einziges Lebewesen immer nur als es selbst wiedergeboren wird – in einer karmischen Dauerschleife. Und außerdem, so Fink, sei der Unglückswurm von erheblicher volkswirtschaftlicher Bedeutung. Bevor der Doktor dies erläutern kann, stürzt er allerdings ins Obergeschoss, weil wir ihn auf einen dunklen, rasch größer werdenden Fleck an der Wohnzimmerdecke hingewiesen haben. Die Badewanne! Während wir es poltern und fluchen hören, breitet sich ein scharfer Geruch aus. Wir eilen in die Küche und ziehen ein Blech mit verbrannter Pizza aus dem Ofen.
Mit routinierter Verzweiflung im Gesicht sitzt Doktor Fink eine geschlagene Stunde später wieder bei uns und serviert die Pizza, die er beim Italiener geholt hat. Zu den Tintenflecken gesellen sich Tomate und Käse. „Der Unglückswurm ist der natürliche Wirt des Unglücks. Stirbt er aus, ist binnen kurzer Zeit auch das Unglück selbst bedroht. Und welches Malheur das für die Menschheit bedeuten würde, ist kaum zu ermessen. Versicherungen, Schlüsselnotdienste, Notaufnahmen und die Katastrophenfilmindustrie wären ruiniert. Erstretter, Unfallgutachter und Forensiker wären arbeitslos. Gaffer müssten plötzlich weitergehen, weil es hier nichts zu sehen gibt. 110 und 112 würden zur gelangweilten Quersumme ihrer selbst.“
Doktor Fink lacht meckernd über seinen Witz mit den Notrufnummern. Wir allerdings überlegen eine Weile, ob er tatsächlich funktioniert … – eher nicht.
Behutsam einen Jammerlappen auflegen
Derweil springt Doktor Fink auf. Sein Auto rollt gerade aus der Einfahrt und rammt frontal eine Laterne. Vor Schreck verschüttet er seinen dampfenden Tee, verbrüht sich und löscht per Kurzschluss alle in seinem Laptop gespeicherten Rettungskonzepte für den Unglückswurm. „Schon wieder alles von vorn!“, stöhnt er leise. Immerhin kann er aus dem Gedächtnis referieren, was man als engagierter Artenschützer tun kann, wenn man einen geschwächten Unglückswurm findet. „Als Soforthilfe sollten man behutsam einen Jammerlappen auflegen. Zum Aufpäppeln eine Schadsoftware laden und dann Schadensberichte und Krankmeldungen einspeisen. In ernsten Fällen bitte detaillierte Unfallprotokolle mit Personenschaden zufüttern.“
Doktor Fink entlässt uns mit der biblischen Prophezeiung des Hiob: Gleichzeitig mit dem Unglückswurm werde auch der Seeigel aussterben – und der Letzte seiner Art werde in den Letzten seiner Art reintreten. Dann werde der Unglückswurm sich humpelnd davonmachen in Richtung Wurmloch. An dessen Eingang werde er sich noch mal den Kopf stoßen und schließlich in eine ferne, sehr ferne Galaxie entschwinden.
Nachdenklich verlassen wir Damelack. Nach einigen Minuten kommt uns ein Feuerwehrauto mit Blaulicht entgegen. Wir haben offenbar noch mal Glück gehabt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!