Die Wahrheit: Billy, der Baby-Pinguin
Neues aus Neuseeland: Unbemerkt von der Weltöffentlichkeit erschüttern Aotearoa Schlagzeilen, die an Blutrünstigkeit nicht zu überbieten sind.
Die letzten Wochen waren die grausamste Zeit, die Aotearoa seit den Maori-Kriegen im 19. Jahrhundert erlebt hat, als 18.000 britische Soldaten über 4.000 Maori-Krieger herfielen. 1865 wurde der deutsche Missionar Carl Völkner deshalb von den Ureinwohnern in Opotiki an einer Weide erhängt und enthauptet, sein Blut verschmiert und seine Augäpfel rituell verspeist, weil man ihn für einen Spion der Kolonialregierung gehalten hatte. Vergeltungsschläge folgten.
Das nur als kurzer Geschichtsrückblick für die, die glauben, dass es am schönsten Arsch stets friedlich zugeht. Dass wir keinen Krieg, kein Leid, kein Gemetzel und keine Opfer kennen. Die bittere Wahrheit dagegen ist: Unbemerkt von der Weltöffentlichkeit wurden wir vor zwei Wochen tagtäglich von Schlagzeilen erschüttert, die an Blutrünstigkeit, Siechtum, Kindersterben und Waisenschicksalen nicht zu überbieten sind. Nicht im Nahen Osten. Auf unserem Boden.
Es begann mit einem grässlichen Blutbad Ende November. Zuerst verreckte ein Pottwal an der Küste hoch im Norden. Es folgten 24 Zwergmörderwale. Und dann, am 26. November, ein Massensterben von 145 Pilotwalen tief im Süden, an einem verlassenen Strand der Insel Stewart Island. Etliche Tiere mussten eingeschläfert werden, zu retten war niemand. Das Meer färbte sich rot. Drei Tage später die gleiche Tragödie auf den stürmischen Chatham-Inseln, im fernen Westen. Wieder 51 Opfer.
Während die Horrornachricht noch sackte – mittlerweile waren es über 200 tote Wale, war das eine Selbstmordepidemie? –, bekamen wir auf der Titelseite der Tageszeitung in Christchurch eine Nachricht serviert, die diese Zahlen in den Schatten stellte. Eine Kolonie von seltenen Schwarzschnabelmöwen, die seit zwei Jahrzehnten am Rakahiuri-Fluss in Nord-Canterbury brüteten, war durch eine Sturmflut zerstört worden. 1.100 Nester weg. 2.200 Eier kaputt. Das Ufer – ein Friedhof.
Welch Trost war es da für unsere trauernden Gemüter, als wir die Zeitung am nächsten Tag aufschlugen. Ach was, nicht mal aufschlugen, denn wieder war es eine Nachricht auf der ersten Seite: Ein Foto von Billy, einem Pinguin-Küken, das in Sumner an der Meeresmündung vor Christchurch im Schlamm hockte. Vor ihm stand ein handgeschriebenes Pappschild, das jedem, der auch nur eine Faser an Herz besitzt, sofort Tränen ins Gesicht treibt.
„Hi. Ich warte darauf, dass meine Mama zurückkommt. Bitte haltet eure Hunde von mir fern. Danke“. Anwohner hatten eine kleine Schutztruppe gebildet, um den Blau-Pinguin – den kleinsten der Welt – vor Angreifern zu schützen. Billys Mama tauchte leider nicht mehr auf. Aber nach all den Kriegen und Toten, nach den Erhängten und Enthaupteten, den Gestrandeten und Ertrunkenen fand zumindest dieses Waisenschicksal ein Happy End: Billy war bereits flügge. Er wird jetzt im Pinguin-Rehabilitationszentrum aufgepäppelt. Titelseite folgt.
Die Wahrheit auf taz.de
Leser*innenkommentare
mowgli
Der Mensch kann versuchen, sich selbst zu belügen. Der Versuch, allerdings, ist strafbar. Auf die Dauer misslingt er nämlich fast immer, und dann passiert, was passieren musste. Nur schlimmer.
Wir sind, was wir sind. Ein einzelner verwaister Pinguin passt nun mal sehr viel besser zum Menschen, seinen Maßstäben und seinem Zutrauen in die eigene Kraft, als 200 tote Wale oder 2.000 tote Baby-Möwen. Von seiner Beziehung zu einem Sonaranlagen betreibenden Militär oder einer Sturmflut gar nicht zu reden.
Ich frage mich, wann die Zeitungsschreiber die traurige Wahrheit endlich kapieren werden: Sie überfordern ihre Leser mit immer neuen Schreckensmeldungen, in denen unvorstellbar große Zahlen vorkommen. Sie tun der Weltrettung einen Bärendienst damit. Sie sollten sich langsam am Riemen reißen.
In Deutschland kommen 64 Einzelkinder auf ein Zwillingspaar. Fünflinge kommen gar nur bei jeder 50millionsten Geburt auf die Welt, wobei die Chance, dass alle Kinder überleben, bis vor sehr kurzer Zeit bei nahezu Null lag. Will sagen: Echte Verantwortung können Menschen nur für einzelne Menschen übernehmen. Dass Generäle über tausende Soldaten und Könige über ganze Völker gebieten, ändern an der Tatsache gar nichts.
Wenn der Horror das menschliche Maß übersteigt, flüchten wir Menschen einfach. Aus Familien, aus Jobs oder aus „Heimat“-Ländern, die uns überfordert. Wir flüchten in eine Fantasiewelt, in Seitensprünge, in Schwangerschaften, in fremde Länder oder gleich in den Tod. Uns in diesen Fällen noch größere Dramen hinterher zu werfen und dazu zu brüllen: „Bleib stehen, Feigling, und tu endlich was!“, nützt überhaupt nichts. Wir laufen dann bloß noch ein wenig schneller.
Jede zwanzigste Titelseite mit niedlichen Bildern aus Pinguin-Rehabilitationszentren aufzumachen, in denen sich Menschen, die an Flüchtlingen versagt haben, um Pinguine kümmern, bringt die gute alte Zeit mit ihren stabil hohen Abo-Zahl auch nicht zurück. Sag ich doch: Nachhaltig sind Lügen jedenfalls nicht.