Die Wahrheit: Morgengold hat Stund im Mund
Die SPD will der linken Sammlungsbewegung „Aufstehen“ nicht tatenlos zusehen. Sie will „Früher aufstehen!“
Mit schläfrigen Augen mustert Lars Klingbeil die gähnenden Journalisten, die in seinem Büro im Berliner Willy-Brandt-Haus an ihren Kaffeebechern nippen. Es ist halb sieben morgens, die Sonne bereitet sich umständlich aufs Aufgehen vor, alle Anwesenden hängen halbtot in den Seilen. Keiner von ihnen war je zu einem so zeitig angesetzten Pressegespräch geladen, geschweige denn um diese Uhrzeit bereits wach. Heute jedoch ist ein besonderer Tag. Der SPD-Generalsekretär will einer Handvoll von Pressevertretern bei einem Arbeitsfrühstück erklären, wie seine zuletzt weggedämmerte Partei das Land tüchtig wachrütteln kann.
„Morgenstund hat Gold im Mund, meine Damen und Herren!“, schreit der alerte Vierzigjährige seine stöhnenden Gäste an und bittet sie, sich am Frühstück gütlich zu tun. Der Generalsekretär, wie immer ohne Krawatte, mit gegeltem weißen Hemd und sorgfältig gebügelten Haaren, redet nicht lange um den heißen Brei herum. Im Gegenteil: Wortlos und konzentriert leert er die Schüssel mit dampfendem Porridge, die vor ihm steht, und erläutert erst dann ausführlich sein Programm einer Erweckungsbewegung für alle sozialdemokratisch denkenden Menschen rechts und links der Mitte.
„Unsere wache Demokratie wird von den Rändern her bedroht“, sagt er ernst. „Von denen des politisches Spektrums wie auch von den Rändern Europas. Die Radikalen stehen erst gegen Mittag auf, die Migrantenhorden schlafen praktisch nie!“ Mit der neuen Bewegung stelle sich die Sozialdemokratie spät, aber nicht zu spät an die Spitze der vielen Millionen, die hauptsächlich eines wollten: so früh wie möglich aus den Federn kommen, rechtschaffen arbeiten und ansonsten ihre Ruhe – vor allem vor dieser ewigen Flüchtlingsdebatte.
Langschläfer als Parteirebellen
Die neulich ins Leben gerufene Bewegung von Sahra Wagenknecht habe die SPD vielleicht kurzzeitig in die Defensive gedrängt und es ihren Langschläfern ermöglicht, sich als Parteirebellen zu gebärden; jetzt sei es jedoch an der Zeit, zurückzuschlafen, äh, -zuschlagen. Weshalb er, den Scherz möchte sich Klingbeil nicht verkneifen, den Termin eigentlich schon auf 5.45 Uhr habe legen wollen. Davon habe ihm allerdings sein Büroleiter dringend abgeraten; dann nämlich seien die Journalisten meist noch zu betrunken.
„In Deutschland ist Konsens: Wer früher aufsteht, kann länger arbeiten!“, ruft Klingbeil in die unausgeschlafene Runde. „Und hat spätabends weniger Lust, sich Talkshows über Asylantenkriminalität anzuschauen – womit den Rechten das Wasser abgegraben wäre.“ Seine Stimme wird eindringlich: „Die faule Wagenknecht-Lafontaine-Bande will die Uhren zurückdrehen in Zeiten, als Kommunisten Deutschland regierten, Leute wie Honecker, Brandt und Schmidt. Wir hingegen stellen die Wecker ein paar Stunden vor, damit wir auch in einer Ära der Massenmigration unsere Grenzen sichern und Reste des Sozialstaats erhalten können.“
Auf verhaltene Zwischenfragen der schlappen Journalistenmeute reagiert der Sozialdemokrat schnippisch: „Papperlapapp, Deutschland braucht einen gewaltigen Tritt in den Arsch! Emmanuel Macron hat gezeigt, wie man eine Bewegung von oben in Gang setzt und im Handumdrehen an die Regierung kommt. Dazu braucht man nur den richtigen Frontmann: klug, charismatisch, medienerfahren.“
Satte Zufriedenheit zieht über Klingbeils Züge, als er flüsternd zum Herzen seiner Strategie gelangt: Gestern früh habe er telefonisch die letzten Details geklärt, um einen verdienten alten Sozialdemokraten zurück in die aktive Politik zu holen, ein Zugpferd, eine Galionsfigur, eine Geheimwaffe – aber wie der Begriff schon sage: bis zum offiziellen Starttag der Bewegung im Oktober eben noch geheim.
Wischiwaschi im Boot
„Dieser Mann hat bewiesen, dass er das Land wachprügeln kann“, versichert Klingbeil. „Mit ihm holen wir alle Bürger zurück ins Boot, die im Prinzip guten Willens sind, aber bei allem Wischiwaschi auf staatliche Effektivität in der Flüchtlingspolitik setzen. Wenn wir diese zwanzig Prozent der Bevölkerung an Bord haben, können wir mit ihnen zusammen am rechten Rand fischen, das macht noch mal dreißig Prozent, et voilà – schon haben wir die absolute Mehrheit und können endlich alleine regieren.“
Jetzt sind die Journalisten hellwach. Sie bestürmen Klingbeil mit Fragen, wer denn der geheimnisvolle Unbekannte sei. Der Generalsekretär verweigert sibyllinisch lächelnd die Antwort. Die Münder der Gruppe formen jedoch immer lauter einen Namen, bis Klingbeil die Augen verdreht. „Verdammt, Sie haben mich – ja, es ist Thilo Sarrazin“, lacht er scheppernd. „Und wissen Sie, wieso? Kennen Sie den Spruch, dass man die AfD nicht kopieren soll, weil die Leute im Zweifelsfall ohnehin das Original wählen?“
Dann steht er auf und sagt zum Abschied stolz: „Mit Sarrazin haben wir das Original.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern