Die Wahrheit: Ich voll aggro
Bei den Unverschämtheiten fremder Leute hilft nicht einmal die stärkste aller möglichen Waffen: das süffisante Grinsen.
D ie aggressivste mir bekannte Person bin bedauerlicherweise ich selbst. Ich könnte praktisch jeden anschreien, hauen oder treten, und zwar wegen allem. Wie die schon wieder gucken! Wie sie dann auch noch reden! Und das doofe Tattoo auf dem Oberarm dort, ist das nicht eigentlich eine Zielscheibe zum reinschlagen?
Die gehemmteste mir bekannte Person bin nicht ganz so bedauerlicherweise auch ich selbst. Fremder Leute Unverschämtheiten rauben mir meist die Sprache. Wenn ich mit dem Auto geschnitten werde, zeige ich es dem unverschämten Verkehrsrowdy so richtig, indem ich etwa fünf Minuten später zaghaft auf die Hupe drücke. Manchmal betätige ich stattdessen versehentlich die Scheibenwaschanlage, was den Heini gewiss sehr überrascht, falls er es noch mitbekommt. Ich vermag meine Gefühle halt kreativ auszudrücken.
Im Supermarkt werde ich regelmäßig an der Kasse ausgebremst. Neulich habe ich eine fatale Waffe entdeckt: mein süffisantes Grinsen! Ich habe es vorm Spiegel geübt. Das derart attackierte saubere Paar, das mir mit dem Einkaufswagen über die Füße gefahren war und danach einen Monatsvorrat Bier und Toastbrot auf das Kassenband knallte, lächelte erfreut und dankbar zurück. Sie sprachen nicht meine Sprache und lebten in dem Wahn, von einer freundlichen, korrekten und sehr deutschen Person ordnungsgemäß vorgelassen worden zu sein. Gewiss ein Problem der interkulturellen Kommunikation.
Denn man weiß natürlich, dass Deutsche niemals jemanden vorlassen. Ein britischer Freund schlug neulich vor, dass ich in Zukunft beim Betreten des Supermarkts mein Handtuch auf dem Boden vor der Kasse ausbreiten solle, um später den so reservierten Platz ohne Rücksicht auf die wartenden Zahlungswilligen einnehmen zu können. Derselbe Freund pflegt Rüpeln mitzuteilen, am Benehmen eines Menschen könne man erkennen, was er im Laufe seines Lebens gelernt habe, und dass sei im Fall des Vordränglers leider unerfreulich wenig.
Einen derart komplexen und niederschmetternden Satz könnte ich in so einer existenziellen Situation niemals über die Lippen bringen, schon weil mir die Wut immer etwas anderes einflüstert, nämlich mehr so etwas wie Hnrgharghgrmbl.
Neulich saßen mir in einem Ruheabteil der deutschen Bahn zwei plaudernde Teilnehmerinnen eines Geriatriekongresses gegenüber. Nach einer halben Stunde hatte ich das Gefühl, die Tagung auch besucht zu haben, nach weiteren dreißig Minuten kannte ich alle ihre Kollegen und fühlte mich bereits selbst total vergreist. Mit letzter Kraft wies ich die Damen schüchtern auf die Ruhezone hin, verbaler Prügel gewärtig. Zu meiner Überraschung verstummten sie einfach. Ich aber, statt nun endlich in Ruhe Zeitung zu lesen, lauschte verzweifelt dem adrenalingesteuerten Blutrauschen in meinen Ohren. Vielleicht sollte ich mich beim nächsten Mal einfach selbst k. o. schlagen.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!