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Die WahrheitMit Scooterman zum Mindestlohn

Kolumne
von Knud Kohr

Mit MS ist man nicht nur auf harte Medikamente mit noch Nebenwirkungen angewiesen, sondern auch auf spritzbereite Helfer. Oder besser nicht.

W ährend Sie diese Zeilen lesen, liegt der Mindestlohn in Berlin bei 9 Euro pro Stunde. Deshalb die Menschen, die ihrem Scooterman jeden Tag behilflich sind, zu den Besserverdienern zu zählen, wäre allerdings eine grobe Fehleinschätzung.

Die Frau, die heute um kurz nach sieben die Nachtruhe des Scooterman beendete, war schon seit ungefähr drei Stunden auf den Beinen. Auch der Scooterman war schon seit zwei bis drei Stunden wach. Das hängt davon ab, ob er am Abend davor wegen seiner Multiplen Sklerose seine Ampulle Betaferon subkutan gespritzt hat oder nicht. Eigentlich sollten die Spritzen von geschulten Mitarbeitern gesetzt werden. Es kostete den Scooterman ein Jahr, bis er die Helfer davon überzeugt hatte, dass er sich die Spritze lieber selbst setzte.

Nicht selten nämlich bringt das Medikament Nebenwirkungen mit sich, die manchmal zwei bis drei, aber manchmal auch zehn und mehr Stunden anhalten. Eigentlich wäre es logisch und sinnvoll, dass der Frühdienst dem Scooterman die Spritze setzt. So argumentieren jedenfalls die Helfer. Aber irgendwann nach dem Frühstück setzen dann die Nebenwirkungen ein. Wie die ausfallen, ist jeden zweiten Tag wieder eine Überraschung.

Die Nebenwirkungen im Blick

Sie ganz zu ignorieren hilft auf jeden Fall nicht weiter. Denn der Autor dieser Zeilen erhöht seine Rente mit Schreiben. Sollte also in der Lage sein, sich zumindest ein paar Stunden so zu konzentrieren, dass er das Ergebnis seiner Arbeit nicht gleich wieder löschen muss. Also gilt es, die Nebenwirkungen der Medikamente wachsam im Blick zu behalten, ohne sich seinen Lebensstil von ihnen diktieren zu lassen. Morgen ist ja immerhin auch noch ein Tag.

Doch genau da legt Scooterman sich mit sich selbst an. Denn auf seinem Tagesplan stand heute oben links und dick und fett und damit auf jeden Fall zu beachten: „Kolumne. Heute. No way außen vorbei!“ Daran, dass er mitten im Satz die verwendete Sprache wechselt, kann man leicht sehen, dass es wirklich ernst ist. Und dass Scooterman es sich selbst nur schwer verzeihen könnte, die Arbeit unerledigt bis morgen Vormittag zu unterbrechen.

Na ja, aber manchmal muss er es eben doch tun. Heute zum Beispiel. Vor einer Stunde begann der Scooterman seine Kolumne. Eigentlich wurde diese Kolumne aber schon gestern Nachmittag begonnen. Sollte also fertig geschrieben sein, bevor ihr Autor auch nur vollumfänglich realisieren konnte, was er da gerade tat. Klappte aber nicht. Nach gut der Hälfte des Textes musste Scooterman seine Arbeit verschieben. Um Tabletten zu nehmen. Sich subkutan zu spritzen. Und dann in der beginnenden Dunkelheit wachsam zu kontrollieren, wie stark die Nebenwirkungen ihn dieses Mal einschränken würden. Im Ganzen waren sie zu ertragen.

Scooterman wurde rechtzeitig ins Bett gebracht. Und brauchte heute Morgen nur eine Viertelstunde zum Aufstehen.

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