Die Wahrheit: Zurück in Ostwestfalen
Die alt gewordenen Eltern brauchen Unterstützung. Das bedeutet, nach dreißig Jahren in die Gegend zurückzuziehen, aus der man kommt.
Wägen us mösst du datt nich moaken!“ Meine Mutter wiederholt das wie ein Mantra. Auch jetzt noch, wo ich es längst gemacht habe und sie in meiner neuen Wohnung sitzt. Mein Vater ermahnt sie: „Nu ist er doch schon hier. Der Umzugswagen ist wieder weg!“
Er, das bin ich, und mein Umzugswagen hat angeblich, wenn man den Umzugsfachleuten auf den beiden Lastern glauben kann, mehr als zweihundert Kisten gebracht. Mit denen wohne ich nun seit dem ersten Januar in Minden. In meiner Heimatstadt. Dabei hätte ich mir nie vorstellen können, jemals wieder zurückzugehen. Anlass sind meine Eltern. Ich möchte ihnen näher sein, ihre „Malessen“ nehmen überhand, auch wenn sie das nicht so sehen. Jetzt bin ich da und störe mehr, als dass ich sie unterstütze. Will ich meiner Mutter nur aus dem Mantel helfen, donnert sie: „Loat datt siern, ick bin kein old Wief!“
Am ersten Werktag des Jahres gehe ich morgens um halb acht durch die Stadt, um mich anzumelden. Kein Mensch auf den Gassen. Für jemanden, der aus Dortmund kommt, ein seltsamer Anblick. Regen glänzt auf dem Asphalt. Ich gehe am alten Rathauseingang vorbei, aber hier ist um kurz vor acht die Stadt noch verrammelt und verriegelt. Einzig die Tür zum Dom steht auf. Das ist beruhigend, denn Glaube hat ja keine Zeit, die Stadtverwaltung schon.
Es ist einige Jahrzehnte her, dass ich hier gewohnt habe. Ich bin gespannt, ob das Einwohnermeldeamt noch da ist, wo es früher mal war. Jetzt ist die Tür zum Amt offen. Es ist Punkt acht. Am ersten Arbeitstag des Jahres ziehe ich die laufende Nummer zehn, die fünf ist bereits aufgerufen. Einige waren also noch früher wach als ich. Und an allen Schaltern ist Betrieb. Dieses Land braucht keine Bundesregierung, damit ein Einwohnermeldeamt funktioniert.
Ich sitze, starre auf die Anzeigetafel und weiß gar nicht, ob jetzt ein neues Paradies auf mich wartet oder ob das letzte Abendbrot in Dortmund eine Henkersmahlzeit war. Meine Gedanken jagen sich: „Last supper! Gehe direkt ins Gefängnis, gehe nicht über Los, ziehe keine 4.000 Euro ein.“
Ich bin zurück in der Heimat, nach über dreißig Jahren wieder in Ostwestfalen. Nummer neun wird aufgerufen, noch könnte ich die Möbelpacker anrufen und sagen, sie sollen alles wieder abholen und zurückbringen. Moment! Seit gestern gehört mir meine alte Wohnung in Dortmund nicht mehr.
Die Zehn wird angezeigt! An Schalter 1. Die Dame kennt mich, ohne auf den Ausweis zu schauen. Das ist hier so. Nett und routiniert werde ich angemeldet. Dann schaue ich sie an und sie mich.
„Bitte?“, sagt sie, „das war es eigentlich.“ Ich frage: „Und das Begrüßungspaket?“ Sie wird etwas rot und sagt: „Äh, so etwas haben wir nicht.“ – „Nicht mal einen Stadtplan?“ Sie sieht meine Enttäuschung, überlegt kurz und sagt: „Das Einzige, was ich Ihnen anbieten kann, ist der Abfallkalender 2018.“ Na, bitte! Geht doch. Und den hab ich dann auch genommen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“