Die Wahrheit: Scooterman begrüßt den Schnee
Der erste Schnee in der großen Stadt. Zeit für eine Ausfahrt mit dem Scooter. Und die Gelegenheit, den Elektrorollstuhl schliddern zu lassen …
A m vorigen Freitag übernahmen die Schneeflocken für einige Stunden die Herrschaft im Luftraum über Berlin. Scooterman hatte allerdings mit einem ganz anderen Problem zu kämpfen. Am Donnerstagabend hatte er sich wegen seiner Multiplen Sklerose wie jeden zweiten Tag eine Ampulle Betaferon subkutan in den Bauch gespritzt. Sechs Stunden später hatten sich seine Beine in zwei unbewegliche Holzpflöcke verwandelt.
Scooterman blieben zwei Möglichkeiten: Entweder den Notrufknopf drücken und bis zum Eintreffen von Hilfe auf der Bettkante sitzen bleiben. Oder aber den Helden spielen. Steifbeinig seinen Hintern auf den Hausrollstuhl wuchten. Er hörte kurz in sich hinein. Dann drückte er sich hinüber. Nach einer Viertelstunde voller Flüche hatte er sich endlich zentimeterweise in eine richtige Sitzposition gearbeitet. Scooterman kennt aber auch Ausdrücke!
Scootermans Balkon meldete drei Zentimeter Neuschnee. Dass die Schneedecke schon während des Entstehens vom Tauwetter attackiert wurde, konnte ihn nicht bremsen. Am Nachmittag wurde es Zeit für eine Ausfahrt.
Sollte der Scooterman während der Sommermonate vergessen haben, dass Neuschnee und eisige Temperaturen so ziemlich die ungünstigsten Bedingungen für Stromfahrer sind – gleich die ersten Meter zwischen seiner Wohnung und dem Ufer der Spree hätten ihn eines Besseren belehren können. Er aber begrüßte den Winter, indem er mitten auf der Fahrbahn volles Tempo gab. Die Straße war nämlich bereits nachtdunkel und quasi menschenleer.
Scooterman bremste voll, sobald er die Höchstgeschwindigkeit erreicht hatte. Und freute sich laut lachend, wie sein Scooter noch wenige Meter weiter schlidderte, bis er zum Stehen kam. Nun gut, da die Höchstgeschwindigkeit seines Gefährts zehn Kilometer pro Stunde beträgt, konnte er die Umwelt damit kaum schockieren.
Auch bei der vierten Vollbremsung freute sich der Scooterman immer noch so sehr über das Schliddern, obwohl er die Distanz zur Böschung falsch einschätzte. Also rutschte er folgerichtig über die Kante. Dass es gleich danach steil bergab ging, verbesserte seine Situation nicht.
„Hilfe?“, rief er probeweise. Und kam sich reichlich dumm vor dabei. Aber obwohl er voll bremste und sogar den Rückwärtsgang einlegte, rutschte er langsam weiter in Richtung Wasser. „Hilfe!“, wurde er entschiedener, als seine Vorderräder hilflos in der Luft über der Spree drehten.
Plötzlich griffen wie aus dem Nichts vier kräftige junge Männerarme von hinten an seinen Scooter. Binnen einer halben Minute war er wieder auf die Straße gezogen. „Mann, du machst Sachen!“, sagte jemand und reichte dem Scooterman einen Joint. „Auch einen Zug?“ Doch der lehnte freundlich ab. Für heute war sein Bewusstsein eindeutig genug erweitert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!