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Die WahrheitScooterman und die Grassuppe

Kolumne
von Knud Kohr

Sich mit der Nadel in den Muskel stechen, ist kein Spaß. Sich nicht rühren können, noch weniger. Dafür gibt es dann am nächsten Tag eine Leckerei.

F alls Sie jemand von naturbelassenen, selbst angebauten Nahrungsmitteln überzeugen will: Spielen Sie nicht mit Ihrer Gesundheit. Gesundes Misstrauen kann helfen.

Scooterman war schon den ganzen Tag über nicht in Bestform gewesen. Vergesslich, zittrig, unkonzentriert. Mehr als einmal verschätzte er sich, als er mit seinem Handrollstuhl durch die Wohnung fuhr. Abends hatte sich Scooterman noch, wie jeden zweiten Tag, eine Ampulle Betaferon subkutan in den Bauch gespritzt. Eigentlich ein Routinevorgang für jemanden, der MS hat, bei dem man allerdings eines beachten muss: Niemals mit der zwölf Millimeter langen Nadel in einen Muskel stechen. Das ist zwar nicht gefährlich, aber es tut mörderisch weh. Genau das passierte dem Scooterman. Damit war der Abend gelaufen.

Sinnvoll wäre es gewesen, kurz vor Geschäftsschluss noch einzukaufen. Nach der Injektion hatte Scooterman noch mindestens eine Stunde, bis die Nebenwirkungen des Betaferon ihn für eine geraume Zeit blöd zwischen den Ohren machten. Ab ins Bett. Dass sein Kühlschrank immer noch so trostlos leer war wie einige Stunden zuvor, verdrängte er erfolgreich.

Fünf Uhr morgens. Scootermans Beine schienen sich über Nacht in Baumstämme verwandelt zu haben. Das geschieht leider regelmäßig nach der Betaferon-Spritze. Die Beine zu biegen, war für die erste halbe Stunde des Tages schlicht unmöglich. Trotz vollem Risiko erfolgloser Versuch, sich in den Handrollstuhl zu drücken, der wie immer parallel zu seinem Bett übernachtet hatte.

Wenig später holte ihn Alexander aus dem Bett. Alexander war weit östlich des Ural geboren worden. Von einem schlecht gefüllten Kühlschrank lässt er sich nicht beeindrucken. „Hast doch alles da“, sagte er und zeigte lässig in Richtung des Balkons. Auf dessen Geländer standen ein paar Blumenkästen, die Scooterman sich mit Unterstützung einer Freundin angeschafft hatte. Ungeachtet der Abgase von Autos, die zehn Meter unter den Kästen fuhren, hatte der kleine Garten den Sommer über bis zu vier Erdbeeren täglich abgeworfen. Und direkt neben dem Krokus waren etliche grüne Halme emporgeschossen, die aussahen wie … dicke Grashalme?

„Auf deinem Kühlschrank liegen zwei Paprikaschoten“, gewährte Alexander Einblick in sibirische Kochkunst. „Sind morgen kaputt. Oder du schneidest klein, mischt mit Gras vom Balkon. Dann kochst du in Wasser, würzt mit Salz und Öl – hast du Eintopf.“ Scooterman war beeindruckt.

Eine Stunde später dampfte die Suppe auf dem Herd. Schon vor dem Mittagessen wurde Scooterman schlecht. „Sie haben also eine Suppe gekocht. Aus Gräsern, die mit Abgasen gedüngt wurden? Sie können doch froh sein, dass Sie nicht im Krankenhaus gelandet sind“, sagte eine Kollegin von Alexander am nächsten Morgen. „Mit Essen spielt man nicht“, fiel Scooterman eine Weisheit seiner Großmutter ein. Stimmt. Und aus Spielzeug macht man kein Essen.

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