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Die WahrheitRemember September

Kolumne
von Susanne Fischer

Wenn ich am 24. 9. ins Dorfgemeinschaftshaus pilgere, um mit wichtiger Miene in der Wahlkabine zu verschwinden, werde ich wieder ganz gerührt sein.

A ls ich Kind war, lag das Wahllokal, das meine Eltern aufsuchten, in einer Kneipe. Am Sonntagmorgen wurde dort fröhlich gefrühschoppt. Durch den Zigarettenqualm waren die Wahlkabinen kaum zu erkennen. Ich wartete vor den Pressholzwänden verlegen auf meine Eltern. Meine langen Zöpfe hingen in Ehrfurcht vor dem demokratischen Akt links und rechts brav am Kopf herunter, statt abzustehen wie bei Pippi Langstrumpf. Ich trug Faltenrock und Club­jacke, um den Anlass zu würdigen, und außerdem vermutlich ein Pflaster auf mindestens einem Knie. Die Kneipe war mir eigentlich zu prosaisch für das heilige Ritual.

Das Ganze war nämlich geheimnisvoll und toll und verlieh meinen Eltern eine Aura von Wichtigkeit und Würde, die sie im Alltag nicht so deutlich ausstrahlten. Deswegen freute ich mich schon sehr auf meine erste eigene Wahl. Das Jahrzehnt bis dahin wurde zunächst überbrückt mit familiärem Wahl-Toto an den hohen Demokratiefeiertagen, bei dem ich nie gewann; später dann mit pubertärem Gestreite für die Abschaffung des Kapitalismus (ich) gegen die Reaktion (meine Eltern), bei dem ich auch nie gewann.

Lustige Erinnerung: Wie mein Vater dozierte, er würde niemals eine Stimme an eine Partei wie Die Grünen verschwenden, die es auf keinen Fall in ein Parlament schaffen könnte. Kurz danach flog seine FDP aus der Hamburger Bürgerschaft, und wir kamen aus dem Feixen gar nicht mehr heraus.

Unlustige Erinnerung: Bei meiner ersten Wahl war ich so vernebelt vom Gefühl staatstragender Bedeutung, dass ich SPD gewählt habe. Nicht die Wir-haben-euch-doch-alle-lieb-SPD von heute, sondern die von Helmut Schmidt mit dem Nato-Doppelbeschluss. Tja.

Zehn Bundestags- und ungezählte Mittel- und Kleinwahlen später bin ich Opfer einer unangenehmen Wurschtigkeit geworden. Weihnachten fühlt sich ja beim fünfzigsten Mal auch anders an als früher. Solange ich nicht von einer CSU-AfD-Koalition regiert werde, ist mir inzwischen beinahe alles recht. Läuft doch hier, was regt ihr euch so auf? Ach so, es regt sich gar keiner auf? Alles lässig?

Weihnachten fühlt sich ja beim fünfzigsten Mal auch anders an als früher

Nein. Dafür hat mir meine Mama damals die Zöpfe nicht geflochten, dass nun alle nur noch „Mir doch egal!“ rufen und am Wahlsonntag im Bett bleiben. Allein der Umstand, dass Kinder schlecht ausgebildeter Eltern es meist nicht bis zum Abi­tur schaffen, egal wie schlau sie sind, sollte einem die Wuttränen in die Augen und den Wahlkuli in die Hand treiben.

Wählen gehen! Nur wen oder was? Der Wahl-O-Mat legt mir nahe, Die Partei anzukreuzen; das ist offenbar etwas wie Loriots Familienbenutzer für Leute meiner Generation – passt für jeden. Ich gehe aber lieber noch einmal über Los und für ein paar Tage in die politische Bildungsanstalt, vielleicht kommt danach was anderes raus. Und wenn ich am 24. 9. in unser Dorfgemeinschaftshaus pilgere, um mit wichtiger Miene in der Wahlkabine zu verschwinden, werde ich wieder ganz gerührt sein. Schade, dass Zöpfe nicht mehr modern sind.

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1 Kommentar

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  • Jau. "…Schade, dass Zöpfe nicht mehr modern sind." &

    Die Tochter auch aus dem Alter raus!

    No. Immer gern beflochten!;)