Die Wahrheit: Die Überpünktlichen
Menschen, die die Gegenwart nur schwer aushalten, erhoffen sich durch Überpünktlichkeit Erlösung. Das ist ein schlechtgelaunter Trugschluss.
E in Zug wartet auf die Abfahrt. Um 9.52 Uhr soll er sich laut Fahrplan in Bewegung setzen. Da ertönt die Stimme eines Mannes: „Ooorrr, wie ich das hasse! Jetzt ist es schon 53!“ – Es heißt dieser Tage oft, die deutsche Identität drohe zu verschwinden. Aber wann geht es endlich damit los? Man möchte glatt selbst ungeduldig werden!
Dabei ist die Pünktlichkeit eine Tugend. Andere Menschen absichtlich auf sich warten zu lassen, ist ein Laster von Leuten, die sich wichtig machen wollen. Verzeihlich aber ist die unabsichtliche Unpünktlichkeit, erst recht bei jenen, die auf erheiternde Weise die Kontrolle über ihr Leben verloren haben. Auch schönen Menschen verzeiht man Verspätungen, immerhin lohnt bei ihnen das Warten.
Pünktlichkeit kann aber auch zum Laster werden, wenn man sie nicht still und selbstverständlich übt, sondern in zwanghafter Weise von anderen Menschen einfordert. Was sind das für Leute, die nicht einen Augenblick friedlich warten können? Wieso ist diese Art der Überpünktlichkeit unter Deutschen so verbreitet?
Bei oberflächlicher Betrachtung scheint es, als wären es Stress oder Eilfertigkeit, die Menschen zur Überpünktlichkeit treiben. Wer genau hinsieht, erkennt aber, dass zwanghaft pünktlich gerade jene Leute sind, die gar nichts verpassen. Der Überpünktliche ist der Spießbürger, der von sich selbst angeödet ist. Er hält die Gegenwart nur schwer aus, darum denkt er beständig an die nahe Zukunft, von der er Erlösung erhofft – allerdings vergeblich, was seine schlechte Laune weiter verschärft. Für sein Unglück macht er all jene verantwortlich, die ihn zum Warten zwingen: „Dankeschön, du Arschloch! Jetzt darf ich es hier wieder eine halbe Stunde mit mir selbst aushalten!“
Eben weil das Warten bei so vielen Menschen Aggressionen auslöst, werden Wartende zu ihrer eigenen Sicherheit und zum Schutz der Bevölkerung in „Wartezimmern“ interniert, wo sie nur begrenzten Schaden anrichten können.
Ist denn aber nicht unser ganzes Leben ein Warten auf den Tod? Und die Erde das geräumigste aller Wartezimmer, in dem wir uns aufhalten dürfen, bis Gott uns zu sich ruft? Es dauert allerdings ein Weilchen. Deshalb richten wir uns häuslich ein, hängen Kunstdrucke an die Wände und ziehen eine Avocadopflanze groß. Um keine Langeweile aufkommen zu lassen, lesen wir Regionalkrimis und Frauenmagazine. Wir freunden uns mit Schicksalsgenossen an, trinken zusammen und spielen Fußball. Wenn uns gar zu fad wird, pflanzen wir uns fort. So kommt’s auch, dass es im Wartezimmer nie leer wird.
Bemitleidenswert erscheint uns aber jener Zausel, der ausruft: „Ooorrrr, wie ich das hasse! Jetzt bin ich schon 80! Der Tod hat Verspätung, laut biologischem Fahrplan hätte er schon vor sieben Jahren da sein müssen!“ Solche Leute halten wir für verwirrt und unglücklich. Nicht anders aber sollten wir über Menschen urteilen, die im Supermarkt rufen: „Neue Kasse! Ich warte jetzt schon zwei Minuten! Neue Kasse!“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin