Die Wahrheit: Wolleweiche Stränge
Fernsehen: Mit dem „Totort“ will die ARD Netflix Paroli bieten. Besuch in einem Autoren-Bootcamp, wo nie da gewesene Twists entwickelt werden.
Hilmar Ströer sieht es nicht kommen. Mit voller Wucht prallt das Wollknäuel an seinem flachen Schädel ab und gleitet nach unten. Gerade noch kann er es mit der linken Hand fangen. „Ja, ähm . . .“, stammelt Hilmar und platzt dann heraus: „Samenspuren am Unterrock!“
Ein ehrfürchtiges Raunen geht durch den Saal, in dem sich ein Dutzend ARD-Jungautoren im Alter zwischen 45 und 58 Jahren in einem Stuhlkreis versammelt hat. Sie sind Teilnehmer eines Autoren-Bootcamp, das das Erste Deutsche Fernsehen ins Leben gerufen hat, um frischen Wind in seine altbackenen Formate zu bringen.
„Die Wollknäuelkreise sind ein Mittel der Ideenfindung und innovativen Drehbuchentwicklung“, erklärt Dr. psych. T. B. A. Wormuth, seines Zeichens Psychologe und Autorentrainer. „Wir haben erkannt, dass wir neue Wege gehen müssen, wenn wir in Zeiten von Netflix wettbewerbsfähig sein wollen“, führt er aus und wird sogleich konkret: „Vor allem Formate wie ‚Tatort‘ locken längst nur noch Hirntote an den Fernseher.“ Und genau deshalb sind die Teilnehmer heute hier. Sie wollen einen neuen Ansatz finden, um die Sonntagabendsendung wieder attraktiv zu machen.
Das Wollknäuelspiel ist beendet
Gerade arbeiten sie am Drehbuch der Folge „Zwiebeln der Zwietracht“. In der noch für 2017 geplanten Folge wollen die Döner-Produzenten Ibrahim und Özgür den Tod ihres Bruders Halil rächen. Sie mischen dem Cottbuser AfD-Spitzenkandidaten Andreas Wolfmann heimlich Brechmittel in die Falafel. Doch schon wenige Stunden später wird dieser tot in einem Straßengraben vor dem örtlichen Bordell gefunden. Die Kommissare Mehlsack und Krummspan stehen vor einem Rätsel. Doch dann fällt der Verdacht auf die junge Gerichtsmedizinerin Beate, die alternative Fakten geschaffen haben soll. „Sehen Sie, das ist packend, das ist modern!“, freut sich Dr. Wormuth.
Das Wollknäuelspiel ist mittlerweile beendet, und die Teilnehmer hetzen an ihre Schreibmaschinen. Hilmar Ströer ist außer sich. Soeben ist ihm der perfekte Kniff für seine Story eingefallen. Er möchte jetzt nicht darüber reden, klopft aber mit dem Zeigefinger energisch auf sein Exposé. „Lustgewitter“ steht darüber. Darin führt Kommissar Stolles Ehefrau ein gefährliches Doppelleben: tagsüber Hausfrau und Mutter, nachts Prostituierte. Als sie jedoch eines Nachts die perversen Wünsche des Staatsanwalts Hellmuth Bins ablehnt, lässt dieser sie auffliegen. Kommissar Stolle steht vor einem Scherbenhaufen. Wie konnte seine Frau nur Mord an seinem Ego begehen? Derweil treibt ein manischer Pfandflaschensammler sein Unwesen in den Straßen Frankfurts. „Erstaunlich, nicht?“, frohlockt Dr. Wormuth.
Das Zwischenmenschliche steht im Fokus
Eine kleine Gruppe Autoren hat sich nun in den Nebenraum verzogen. „Das ist unsere Testbühne, hier probieren wir neue Dialoge aus“, erläutert Wormuth, „so sehen wir sofort, ob sie funktionieren, und nicht erst Monate später.“ Ein dicklicher, stark schwitzender Autor, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will, hat sich einen falschen Schnurrbart angeklebt und beugt sich über eine behelfsmäßig totgeschminkte Kollegin. Daneben ein weiterer Autor im Arztkittel. Der Dialog ist fesselnd: „Sie ist tot!“ – „Noch nicht ganz.“ – „Ach?“ – „Aber bald.“ – „Na, Gott sei dank.“ Das sei aus der Folge „Bittere Knospen“ erklärt man uns, in der mehr das Zwischenmenschliche im Fokus stehe.
In der Tat klingt der Inhalt vielversprechend: Die 50-jährige Hausfrau Renate Tumser wird auf dem Weg zur Blutspende mitten in Volkmannsreuth von einem Traktor angefahren und fällt ins Koma. Es gibt keine Zeugen, keine Indizien, kein Motiv. Nach kurzer Zeit stirbt die Frau. In ihrem Nachlass werden Briefe mit Morddrohungen gefunden. Jedoch ohne Absender. Die Kommissare Rummel und Mösgen sind ratlos und wollen den Fall schon abschließen, als plötzlich eine weitere Frau brutal vom Traktor überfahren wird. Am Tatort bleiben Tulpenzwiebeln zurück, die die Kommissare auf eine heiße Spur nach Holland führen.
Ein fulminanter Jubelschrei
„Es ist atemberaubend, nicht? Diese kreative Energie!“, prahlt Dr. Wormuth stolz. Noch im vierten Quartal 2017 soll die erste Folge der innovativen Krimireihe auf Sendung gehen. „Und jetzt halten Sie sich fest!“, ruft Wormuth überschwänglich: „Unter dem Namen ‚Totort‘!“ Das schlägt ein wie eine Bombe. Alle Autoren im Raum sind plötzlich mucksmäuschenstill, keiner tippt mehr, keiner wirft Wollknäuel. Dann ein fulminanter Jubelschrei. „Bravo, bravo“, rufen Einzelne. Ein echter Coup!
Die Chancen steht also gut, dass man mit dieser Serie dem anspruchsvollen ARD-Publikum genau die nervenkitzelnden Kriminalfälle präsentiert, die es auch verdient – angereichert mit persönlichen Schicksalen, herzzerreißenden Dramen und nie da gewesenen Twists. Netflix kann einpacken.
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Klimaneutral bis 2045?
Grünes Wachstum ist wie Abnehmenwollen durch mehr Essen
Leak zu Zwei-Klassen-Struktur beim BSW
Sahras Knechte
Friedensforscherin
„Wir können nicht so tun, als lebten wir in Frieden“
CDU-Chef Friedrich Merz
Friedrich der Mittelgroße
Nach Hitlergruß von Trump-Berater Bannon
Rechtspopulist Bardella sagt Rede ab
Bildungsforscher über Zukunft der Kinder
„Bitte nicht länger ignorieren“