Die Wahrheit: Der Einbremser
In der Praxis eines Demotivations-Coachs: Endlich werden übermotivierte Menschen mit ungesund hohen Ambitionen auf Normalmaß gebracht.
„Nehmen Sie Erdoğan, Trump oder von mir aus auch Putin: Wenn ich frühzeitig mit denen gearbeitet hätte, dann würde Erdoğan jetzt eine Imbissbude am Bosporus betreiben, Trump als Taschenpacker bei Wallmart arbeiten und Putin auf einem Moskauer Bauernmarkt Kartoffeln verkaufen.“
Kopfschüttelnd sitzt Ruben Lücke in seiner kleinen Praxis in Berlin-Schöneberg und starrt auf den Posteingang der Mailbox. Er habe sie alle angeschrieben und seine Dienste angeboten, schimpft der Mittvierziger. „Die schmieden große Pläne, wie sie das eigene Volk unterjochen, aber haben keine fünf Minuten, um meine Mails zu beantworten!“
Lücke ist Deutschlands führender Demotivations-Coach. Außen am Hauseingang der Praxis hängt das Schild mit seinem Motto: „Keine Leistung – kein Schaden“. Innen findet sich ein spartanischer Behandlungsraum mit Schreibtisch, Bürostuhl und einem schwarzen Sofa. Keine Bilder, keine Pflanzen. Nichts soll hier zu irgendetwas motivieren. Lückes Outfit ist ein Statement: verwaschenes T-Shirt, weite Jogginghose, ausgetretene Turnschuhe.
Kein gesellschaftlicher Nutzen
Seit fünf Jahren therapiert der Coach übermotivierte Menschen, die, wie Lücke es nennt, „ungesund hohe Ambitionen im Leben“ entwickelt haben. „Anwälte, Profisportler, Politiker, Wirtschaftsbosse, Banker – seien wir doch ehrlich: Welchen gesellschaftlichen Nutzen bringen die denn? Keinen! Im Gegenteil, die schaden sich und der Gesellschaft!“
Menschen, die in Spitzenpositionen drängten, übten auf die normale Bevölkerung einen krankmachenden Leistungsdruck aus, so der Demotivations-Coach. Mit Auswirkungen wie Burn-out, übermäßiger Schweißproduktion oder auch nächtlichen Heißhungerattacken. „Verfettung durch unerreichbare Vorbilder ist ein enormes Problem. Fühlen sich die Leute wie Loser, dann neigen sie zu Frustrationsvöllerei!“
Das Therapieziel sei daher, den Patienten beizubringen, dass es normal und erstrebenswert sei, „nichts auf die Kette zu bekommen“. Lücke unterbricht das Gespräch und wendet sich an einen älteren Herrn im Maßanzug, der mit hängendem Kopf auf der Couch sitzt und sich unschlüssig die grauen Schläfen kratzt. „Herr Müller, wir sind doch längst fertig. Sie können nach Hause gehen!“
Der Mann macht keinerlei Anstalten, aufzustehen. „Och, ich weiß nicht. Was soll ich denn da? Nee. Sehe ich irgendwie keinen Sinn drin.“ Demotivations-Coach Lücke strahlt über das ganze Gesicht. „Sehen Sie? Fantastisch! Herr Müller lenkt normalerweise ein Aktienunternehmen, Milliarden Euro schwer! Zwei Sitzungen – und der kriegt seinen Arsch nicht mehr hoch!“
Es sei erstaunlich einfach, seine Patienten zu behandeln, erklärt Lücke. Der Mensch sei in seinem tiefsten Inneren nämlich zur Faulheit prädestiniert. „Das ist entwicklungsbiologisch sinnvoll, weil es Energie spart!“ Zuerst destrukturiert Lücke dafür den Alltag seiner Patienten: „Keine Termine, Verabredungen nicht einhalten, Unpünktlichkeit, willkürliche Essenszeiten, viel Schlaf und viel Fernsehen. Das wirkt Wunder!“
Danach schließt der gelernte Fabrikantensohn intensive Sitzungen an, in denen er die Patienten von der „Sinnlosigkeit allen Tuns“ überzeugt. Dabei helfe ihm seine Kindheit bei Scientology, gibt Lücke freimütig zu. Den Vorwurf der Gehirnwäsche weist er allerdings entschieden zurück.
Lückes Arbeit umfasst aber nicht nur die Behandlung bereits betroffener Leistungsträger. Der Demotivations-Coach setzt vor allem auf Prävention, damit ungesundes Leistungsdenken erst gar nicht entsteht. An diesem Morgen steht ein Besuch der sechsten Klasse einer Berliner Gesamtschule auf Lückes Agenda.
Schluss mit ambitionierten Zielen
Er fordert die Schüler auf, ihre Berufsziele zu nennen. Schnell füllt sich die Tafel mit ambitionierten Zielen: Pilot, Profisportler, Arzt, sogar eine Wissenschaftlerin ist dabei. Lücke schaut mitleidig auf die Schüler herab. „Ihr habt doch gerne nach der Schule frei, oder? Spielt Playstation, oder draußen Fußball? Trefft euch mit Freunden. Geht in die Stadt. Shoppen! Tja. Das ist dann wohl jetzt alles vorbei.“
Der Demotivations-Coach beginnt nun ausführlich den Zwölfjährigen zu erklären, welche hohen Anforderungen eine Pilotenausbildung mit sich bringt, wie hart ein Medizinstudium ist und zu welchen Opfern ein Profisportler bereit sein muss. Nach seiner fünfstündigen Ausführung sind die Schüler ganz blass geworden.
Daran schließt sich die „Phase des Umerziehens“ an. Lückes Stimme wird sanft, während er die Vorzüge des Sozialstaats erläutert und welche tollen Dinge die Kinder mit 409 Euro Regelsatz Hartz IV anstellen könnten. Das Argument, dafür rein gar nichts leisten zu müssen, sorgt schnell wieder für strahlende Schüleraugen.
Nach dem Klassenbesuch entschuldigt sich Ruben Lücke. Er müsse noch auf Hausbesuch zu einem prominenten Patienten. Der habe sich in den Kopf gesetzt, Kanzler zu werden. Da werde es höchste Zeit für erste Therapieerfolge.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Scholz bezeichnet russischen Raketeneinsatz als „furchtbare Eskalation“
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung