Die Wahrheit: Supersüffelsaftsüchtig
Von Rhabarberschorle bis zu Craft Beer: Modegetränke unterliegen dem Wandel der Zeit. Eins aber ist sicher – Pisse kommt! In der Flasche!
Jetzt, wo das Zeug fast schon wieder so out ist wie Mammutmilch, kann ich ja endlich damit herausrücken: Ich bin der Einzige, der schon Rhabarberschorle getrunken hat, als noch kein Mensch daran dachte.
Denn es war eine andere Zeit. Das Bier kam noch von großen Brauereien und nicht aus einer Craft-Beer-Manufaktur. Die Fleisch-Pads in den Burgern waren noch aus Knorpeln, Sägespänen und Tapetenkleister und keine vor den Augen der Gäste durch den Wolf gedrehten Qualitätssteaks.
Gescheiterte Existenzen bettelten noch um Geld und nicht um Praktikumsplätze. Vor allem aber waren Schorlen aus jeder anderen Fruchtsaftsorte außer Apfel ausschließlich trockenen Alkoholikern vorbehalten, um diese ein wenig von der entsetzlichen Trostlosigkeit abzulenken, die sich aus dem Alkoholverzicht ergab.
Kein Lokal führte Rhabarbersaft. Ich musste ihn mir aus dem Reformhaus mitbringen, wo die Flasche unter dem Ladentisch verkauft wurde, und heimlich ins Mineralwasser schütten. Erwischten sie einen dabei, wurde man verhöhnt und fortgejagt, in früheren Jahrhunderten auch verfolgt und verbrannt.
Später, es muss so um das Jahr 2010 herum gewesen sein, wurde plötzlich alles anders – und der Boom begann. Man brauchte bloß ein Glas Rhabarberschorle auf die Straße zu stellen, und schon wurde eine Szenekneipe drum herumgezogen. Elektro-DJ rein, Dach drauf, über die Eingangstür ein Schild mit Namen wie „Furchtbar“ oder „Ein blindes Huhn trinkt auch mal einen Korn“ oder „Knaben mit Realschulreife“, und fertig war die Laube.
Nicht alles zum Kotzen
Ich hab das Zeug ja einfach nur getrunken, weil es schmeckt. Und eines Tages sind eben auch noch andere darauf gekommen. Schließlich ist nicht jede Idee von Arschlöchern automatisch eine schlechte Idee. Ich sag nur: Autobahnen. Und Bionade schmeckt mir ebenfalls – jede Sorte. Eine gute Erfindung. Aber das sind dann doch eher die Ausnahmen. Die neuen Colasorten taugen nämlich durch die Bank nichts, und Club Mate ist das Grauen schlechthin.
Natürlich ist das nur eine subjektive Meinung. Nach meinen Geschmackserfahrungen mit Red Bull und Co möchte ich jedoch behaupten, dass es jederzeit möglich wäre – an dieser Stelle läuft das Craft Beer auf seinem Hochsitz ein paar Zeilen weiter oben schamrot an –, selbst Pisse als neues Szenegetränk zu lancieren. Müsste nur genug Zucker drin sein.
Entscheidend für den Erfolg sind allein die Kampagne und der Markenname. Was ist denn gerade hip: erdig, regional, retro. Am besten wählt man also eine urdeutsche Produktbezeichnung wie „Mittlerer Morgenstrahl“, der augenzwinkernd das Spiel mit völkisch angehauchter Esoterik und einer Wiederbesinnung auf eine autarke Ernährungsweise aus heimatlicher Krume und gesundem Eigenurin wagt, verstärkt noch durch Frakturschrift auf dem Etikett.
Nichts als reine Pisse
Nur ein ironisches Zitat, selbstverständlich: Die junge und urbane Zielkundschaft ist zwar unpolitisch wie ein Kleiderbügel, doch eine linke Pose ist in diesen Kreisen noch immer angesagter als eine rechte. Und unbedingt gehört das Prädikat „Bio“ dazu. Das bedeutet für die Herstellung: keine Dopingproben von Leistungssportlern! Nur die reine Pisse von ausgemergelten, aber hochkreativen Veganern aus WG-Haltung.
Im Werbespot untermalt der Song „Vollgepullert leben, zeig mir alles, wie es ist“ Bilder von jungen Menschen mit Hütchen, die auf Skateboards im Kopfstand über die Berliner Oberbaumbrücke rasen. Der Zuschauer wundert sich, dass die Hütchen dabei nicht runterfallen, aber das ist ja auch Werbung und kein Dokumentarfilm. Schwerkraft ist bloß eitler Hokuspokus für bebrillte Science-Nerds in Strickpullundern.
Nach der letzten Liedzeile, „Komm tanz mit mir, und öffne deine Blase“, pinkeln sie zwischen „Bio Company“ und dem Szene-Vietnamesen „Pho Chi Minh“ anmutig und zielsicher in eine Flasche. Im Hintergrund fährt ein oben offener Doppeldeckerbus vorbei, auf ihm tanzen noch mehr lachende und singende Menschen mit noch mehr Hütchen. Auf dem Bus prangt eine riesige Reklame für „Mittlerer Morgenstrahl“.
Doch auch dieser Hype wird bald vorübergehen. Was kommt wohl als Nächstes? Wahrscheinlich trinken wir dann unser Blut. Die Labels „A+“, „B–“ und „Erdbeerwoche“ schmecken zwar immerhin besser als Club Mate, aber nicht so lecker wie Rhabarbersaft.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen