Die Wahrheit: Die Einzelkuh
Biologie und Komik: Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung behandeln in Folge 27 ein singuläres Phänomen.
„Die objektive Kuh gibt es nicht!“, meint der Wissenssoziologe Bruno Latour, aber es gibt „Einzelkühe“. Ein staatliches Ensemble der DDR führte 1958 ein Tanzspiel mit dem Titel „Die Einzelkuh“ auf, das für die ländliche Bevölkerung gedacht war und mehrfach zur Aufführung kam: Die Mitglieder der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG) freuen sich über den guten Erlös ihrer gemeinsamen Arbeit und beginnen zu tanzen.
Daneben plagt sich ein Bauernpaar mit seiner „Einzelkuh“, die von Tag zu Tag widerspenstiger wird. Denn die Kuh hat längst die Vorteile der genossenschaftlichen Arbeit auf dem Land erkannt. Als sie endlich über den Zaun springt, kann auch das Bauernpaar nicht mehr widerstehen, zieht hinterher und wird von den Mitgliedern der Genossenschaft freudig aufgenommen und zum Tanz eingeladen.
In der Sowjetunion war mit der Kollektivierung der Landwirtschaft Anfang der dreißiger Jahre bestimmt worden, dass die Bauern außerhalb der Kolchosen nur noch maximal einen Hektar und eine Privatkuh (nebst Kalb) besitzen durften. Von diesen Einzelkühen in Familienställen erwähnt der sowjetische Schriftsteller Wassili Grossman zwei in seinen „Kriegstagebüchern 1941–1945“: „Nächtliches Weinen über eine Kuh, die beim blauen Licht des gelben Mondes in einen Panzergraben gestürzt ist. Die Weiber heulen: ‚Sie lässt vier Kinder zurück.‘ Als ob sie ihre Mutter verloren hätten.“
Eine Bäuerin erzählt ihm: „ ‚Ach, jetzt ist Krieg, ich habe bereits 18 Männer bedient, seit mein Mann weg ist. Eine Kuh halten wir zu dritt, aber nur ich darf sie melken, die beiden anderen akzeptiert sie nicht.‘ Sie lacht. ‚Ein Weib ist jetzt leichter zu überreden als eine Kuh.‘ Sie lächelt.“
Private Kühe
In der DDR waren die Privatkühe nicht auf ein Tier beschränkt, man konnte so viele halten, wie man wollte, und musste nur zusehen, wo man das Futter herbekam. Alles Land war an die LPG verpachtet und man konnte höchstens von der Gemeinde für fünf Mark das Straßenbegleitgrün pachten. Die Privatkühe gingen trotzdem höchst ungern in die LPG-Ställe, wo sie in große Herden gezwungen und mit Lohnabhängigenbewusstsein wie am Fließband gefüttert und gemolken wurden. Sie gaben weniger Milch und wurden schneller krank.
Kluge LPG-Vorsitzende fanden Auswege. Die aus Sachsen-Anhalt stammende Schriftstellerin Beate Morgenstern erzählt in einem ihrer „Dorfromane“, dass, als nach Gründung der dortigen LPG langsam alles kollektiviert wurde, deren Vorsitzender Hetzel den Mitgliedern riet, ihre Kühe zu Hause zu lassen und selbst zu versorgen: „Weil es ehmt so ist, dass die Tiere in ihren Ställen auch eine Gemeinschaft bilden und untereinander ihre besondere Sympathie oder Abneigung haben.“
So hat es die LPG in späteren Jahren unterlassen, private Tiere aufzukaufen, um die staatlichen Vorgaben zu erfüllen, weil sie aus Heimweh nach ihren früheren Ställen eingingen. Lieber erfand man „Luftkühe“ und war dann in der Milchleistung und im Fleischaufkommen etwas schlechter. Hetzel hat sich erst aus dem Nachwuchs von den Kühen aus den Familienställen seinen Bestand für eine größere Anlage gezogen. Aber die Familienställe, wo die Kühe von einer Frau versorgt wurden, bildeten bis zum Schluss eine Stütze – auch in volkswirtschaftlicher Hinsicht.
Ähnlich sieht das heute auch die an der Newcastle University tätige Biologin Catherine Douglas. Sie befragte 516 britische Milchbauern über ihre Einstellung zum Verhalten und Wohlergehen der Kühe. Dabei kam heraus: 46 Prozent der Befragten gaben ihren Kühen Namen – und diese gaben im Jahresdurchschnitt 258 Liter mehr Milch als Kühe, die nur wie eine unter vielen behandelt wurden. „Genauso wie Menschen stärker auf persönlichen Kontakt reagieren, fühlen sich auch Kühe entspannter und wohler, wenn man ihnen ein bisschen mehr Aufmerksamkeit schenkt“, erklärt die Wissenschaftlerin.
Kühisches Wohlergehen
Solch eine Kuhforschung, in der das Wohlbefinden mit steigender Leistung verkoppelt wird, indem die Milchmenge als Indikator für Wohlbefinden gilt, gab es nach der erfolgten Kollektivierung der Landwirtschaft auch in der Sowjetunion. Der Agraringenieur Hanns-Peter Hartmann schrieb an der Hochschule für LPG in Meißen eine Diplomarbeit über „Vorschläge zur Erweiterung und rationelleren Nutzung moderner Milchproduktionsanlagen“.
Als Quelle benutzte er eine noch nicht ins Deutsche übersetzte russische Studie der Zoologen Admin und Savzan aus dem Versuchsbetrieb Kutusowka. Die beiden lyssenkistisch inspirierten Rinderforscher hatten herausgefunden: Wenn man den Färsen zweimal täglich ihre noch kleinen Euter streichelt und massiert, erhöht das später als Kühe ihre Milchleistung um gut einen Liter täglich.
Als LPG-Produktionsleiter nahm Hartmann diese Empfehlung jedoch selber nicht ernst: „Wer hätte dafür Zeit gehabt, allen Tieren die Euter zu massieren und wie viel das gekostet hätte – dieses zweimal tägliche Als-Ob-Melken?! Außerdem standen unsere Färsen in den Offenställen, in denen sie frei herumliefen: da wäre man alleine gar nicht an die rangekommen.“
Streichelprojekt „Kalb“
Zwei Schweizer Wissenschaftlerinnen des Instituts für biologischen Landbau in Frick forschen nun in dieselbe Richtung – ausgehend von dem Nachweis, dass Kühe mit ruhigem Charakter weniger krankheitsanfällig sind als unruhige, schreckhafte Tiere und dass beides vom Verhalten des Menschen abhängt, begannen sie ein „Streichelprojekt“ mit den Kälbern eines Rinderzüchters, die sie bereits in den ersten Tagen nach ihrer Geburt „wissenschaftlich“ – nach der (an Pferden entwickelten) amerikanischen „Tellington-TTouch-Methode“ – streichelten.
Im Berliner Stadtteil Friedenau gibt es einen „China-Club“, dort lief jüngst ein Film von Guan Hu über eine Einzelkuh: „Cow“. Die Hauptrollen spielten der Volksschauspieler Huang Bo – als Kleinbauer Niu Er – und seine friesische Milchkuh Duo Niu: Sie ist eine Spende aus Holland zur Verbesserung der Versorgung der Roten Armee. Es ist das Jahr 1940 im Dorf Yizhen. Alle Bewohner wurden in Krieg und Bürgerkrieg getötet, nur Niu Er und Duo Niu haben überlebt. Mal rettete der Bauer die Kuh, mal rettete sie ihn …
Das passiert auch hierzulande gelegentlich: Im thüringischen Bischofferode, wo die Bergarbeiter 1993 gegen die Schließung ihrer Kaligrube durch die Treuhandanstalt in einen langen Hungerstreik getreten waren, aber den Kampf letztlich verloren hatten, erfuhr ich von einer Mitkämpferin, der Pastorin Christine Haas, dass in der Region nun lauter alte, zum Teil reaktionäre Volksbräuche wiederbelebt werden: „Es ist aber auch eine deprimierende Situation“, entschuldigte sie die resignativ gestimmten Kalikumpel: „Während der Auseinandersetzungen, so anstrengend sie waren, ging es fast allen gut. Danach fiel alles auseinander. Vier starben sogar, viele wurden krank, einer bekam ein Stück Land wieder und kaufte sich eine Kuh – als die ein Kalb gebar, ging es ihm wieder besser.“
Das dem sozialistischen Realismus verpflichtete Tanzspiel „Die Einzelkuh“ des „staatlichen Dorfensembles“ war seiner Zeit voraus, denn demnächst wird es Tierschutzgesetz, dass Herdentiere nicht mehr einzeln gehalten werden dürfen. Das gilt selbst für Meerschweinchen. Für die „Botschaft“ des Stücks gilt jedoch eher das, was der sowjetische Dissident Boris Jampolski 1975 über die linientreue Literatur sagte: „Wenn [E.T.A.] Hoffmann schreibt: ,Der Teufel betrat das Zimmer', so ist das Realismus, wenn die [Sowjetschriftstellerin] Karajewa schreibt: ,Lipotschka ist dem Kolchos beigetreten‘, so ist das reine Phantasie.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour