Die Wahrheit: Genosse Sonnenkönig lassen bitten!

Das große Wahrheit-Porträt: Zu Besuch bei Martin Schulz – dem künftigen Bundeskanzler der Bundesrepublik Würselen.

Illustration: Burkhard Fritsche

Er ist die Lichtgestalt, auf die die SPD seit Jahren wartet: ein Politiker aus den eigenen Reihen, vor dem die Menschen nicht gleich scharenweise Reißaus nehmen. Vergessen sind die dumpfen Jahre unter Panzer Gabriel, Sturmgeschütz Steinbrück, Haubitze Beck, Schlachtross Münte und all den anderen Schreckgestalten aus der sozialdemokratischen Folterkammer.

Schulz ist dynamisch und modern wie eine Helikopterdrohne, die nicht gleich schießt, sondern erst mal fröhlich anklopft und zum Fenster hineinwinkt. Schulz ist erfahren und beständig wie die „Gorch Fock“ und mit 61 Jahren sogar nur zwei Jahre über dem Durchschnittsalter der SPD-Mitglieder von 59 (kein Witz).

Wo immer er seinen Fuß hinsetzt, schlagen ihm Jubelstürme und Lobpreisungen aus dem Volk entgegen. Wie konnte es dem vom Thron des EU-Parlaments zur Bundespolitik Hinabgestiegenen gelingen, die SPD innerhalb weniger Wochen wie eine wählbare Partei aussehen zu lassen? Was ist das Geheimnis seiner Popularität?

Unbeschwert im Umgang

„Tsching, tsching“, macht die Klingel, als wir Martin Schulz in seinem Würselener Heim besuchen. „Tach“, grinst der Kanzlerkandidat jovial durch die Bartstoppeln und streckt die Linke zum Gruß. In der Rechten hält er ein Marmeladenbrötchen. „Immer herein in die gute Stube! Möchten Sie Kaffee? Zur Feier des Tages lade ich Sie ein.“ Schon diese Unbeschwertheit im Umgang mit anderen lässt Schulz die Sympathien zufliegen. Mehr als zwei Jahrzehnte EU-Parlament haben der Volksnähe seines Charakters offenkundig nicht geschadet.

„Ich bin eigentlich immer noch der Gleiche wie damals“, plaudert Schulz munter drauflos und köpft mit dem Brotmesser ein Fabergé-Ei. „Natürlich habe ich zwischenzeitlich ein bisschen verdient, bin rumgekommen, habe einen Haufen wichtiger Leute kennengelernt und mich durchs Leben geschlemmt, aber meine Würseln sind nach wie vor hier in Wurzelen, Quatsch, andersrum.“

Die Wähler spüren diese Bodenständigkeit. Den Geist des einfachen Volkes, der Martin Schulz durchweht wie eine laue Sommerluft Châteaus und Reben der Champagne. Ebenso gut könnte er Realschullehrer für Biologie und Turnen, ein Sparkassendirektor oder Zahnarzt sein. Selbst jene, die ihn nicht als Kanzler wollen, würden sich von jemandem wie ihm jederzeit bedenkenlos einen Zahn ziehen lassen.

„Vertrauen ist das E und U in der Politik“, sagt Schulz nachdenklich und köpft noch ein Fabergé-Ei. „Die Leute spüren, wenn du den Bezug zur Realität verloren hast, zum Beispiel weil du nur mit Joggingschuhen bekleidet im Einkaufszentrum Opernarien zum Besten gibst. Gottlob gibt es Orte für solche Menschen, nicht nur im EU-Parlament.“

Auch Schulz’ Leben verlief nicht immer gerade und ohne Aussetzer, bisweilen sogar in Schlangenlinien. Mitte der Siebziger machte er eine Ausbildung zum Buchhändler, ging richtig arbeiten. „Die schlimmste Zeit meines Lebens“, stöhnt Schulz. „Die Tage habe ich nur mit viel, viel Alkohol überstanden. Zum Ausgleich, um mich von dem Stress zu erholen, habe ich nachts dann gesoffen.“ Das Verhängnis nimmt seinen Lauf: Je länger er arbeitet, desto mehr trinkt er. „Irgendwann konnte ich mir ein Leben ohne Alkohol ohne Alkohol gar nicht mehr vorstellen, weil ich mit den Entzugserscheinungen beschäftigt war“, gesteht Schulz.

Doch Schulz ist ein Kämpfer. Nachts schlägt er sich in den Kneipen, bis ihm Sterne um den Schädel sausen und Englein in sein Ohr zwitschern. Eines Tages erwacht er schließlich im Krankenhaus. Dort rät man ihm zur Therapie und einer weniger anstrengenden Tätigkeit, als den ganzen Tag Buchreihen zu begradigen. Also sattelt Schulz um, gibt seiner Schindmähre namens Buchhandlung den Gnadenschuss, macht Station als Bürgermeister von Würselen und reitet dann auf einem frischen Arabergaul, genannt EU-Mandat, gen Brüssel. Dort wird er erst Fraktionsvorsitzender, dann Präsident des Europäischen Parlaments – Martin Schulz hat die Europäische Union durch und durch durchgespielt.

Nun, im Jahr 2017, wendet er sich als Kanzlerkandidat und designierter Parteivorsitzender neuen Aufgaben zu. „Klar“, bekennt er. „Ein Lebenstraum geht damit nicht gerade in Erfüllung. Aber ich habe gespürt: Hier werde ich gebraucht. Manche sehen Bilder aus einer Erdbebenregion und brechen spontan auf, um zu helfen – mir ging es beim Anblick der SPD so.“ Mit dem Unterschied, dass Schulz nun selbst ein politisches Erdbeben ausgelöst hat. Die Gegner zittern vor dem Donnerhall seiner Worte und seinem niedlichen rheinischen Chprachfehler. Nahezu wöchentlich verdoppeln sich die Umfragewerte der Sozialdemokraten, die alteingesessene Partei verzeichnet Dutzende Neueintritte. Und im Internet kursieren Memes mit Schulzens Konterfei, mittlerweile kennen vereinzelt sogar Wähler unter 40 Jahren die SPD.

Phänomen der Wirkung

Experten sprechen in diesem Zusammenhang vom „Schulz-Effekt“, sichtbare Wirkung einer vermuteten geheimnisvollen Kraft, die noch wenig erforscht ist, der Schulz-Kraft. „Wahrscheinlich haben wir es mit einer kognitiven Naturkonstante zu tun“, sagt Dr. Reinharda Yildrim vom Persuasions-Institut für vergleichende Festkörperpsychologie in Augsburg. „Ein Schulz ist zum Beispiel eine Milliarde Nahles.“ Doch noch gibt es keine befriedigende Erklärung für dieses Phänomen. Hexerei und dunkle Gedankenstrahlung sind jedenfalls vorerst vom Tisch.

„Die Menschen spüren einfach, dass es mir ernst ist, wenn ich sage, wir können nur gemeinsam zusammen eine gemeinsame Zukunft gestalten“, erläutert Schulz seine Prinzipien und gibt noch ein Fliegenbein in die Suppe. „Ich schaffe es, das Wort ,gemeinsam' bis zu fünfzigmal in eine Rede einzubauen – pro Minute. Das ist Rekord!“

Verständlicherweise rufen solche Erfolge auch Zweifler und Kritiker auf den Plan. Schulz sei von Machthunger besessen, geldgierig und hätte des Öfteren nur mit Joggingschuhen bekleidet im Einkaufszentrum Opernarien zum Besten gegeben, lauten häufig geäußerte Vorwürfe.

Hunger nach Macht

Schulz ficht das nicht an: „Alles richtig, bis auf den Machthunger natürlich. Aber ich habe mich immer an die Regeln gehalten. Zu so etwas wie Bestechlichkeit wäre ich gar nicht fähig, da müsste man mir schon Geld bieten! Apropos bieten: Sie möchten nicht zufällig diese Kamera kaufen? Ist ein ganz neues Modell …“

Es ist diese Mischung aus Ehrlichkeit, schönen Worten, propagiertem Gemeinschafts- und gelebtem Eigensinn, die die Wählerherzen höher schlagen lässt und die Utopie einer Welt zeichnet, in der jeder nach seiner Fasson um seine Rente kämpfen darf.

Martin Schulz hat der SPD ihr Gesicht zurückgegeben. Eines ohne Haare auf dem Kopf und mit stets geschürzter Unterlippe zwar, aber immerhin ein Gesicht! Doch das ist noch nicht der ganze Grund für die Gunst, die Schulz zuteil wird, denn da wäre noch sein größter Trumpf, der allein ihn heller strahlen lässt als die hellste Supernova, der ihn zum Messias, zum gepriesenen Sonnenkönig der Sozialdemokraten erhebt, obwohl er, Martin Schulz, nicht einmal etwas dafür kann: Er ist nicht Sigmar Gabriel.

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