Die Wahrheit: Verrückt nach Koi
Die etwas anderen Haustiere: Ziehen die Fische des ehemaligen VW-Chefs bald um? Eine wahre Reportage aus dem Reich der Kiemenatmer.
Schon als uns Ann-Kathrin Flügelschulte begrüßt, wird klar, dass sie wir es mit einer Macherin zu tun haben. „Ich hole Sie am Gatter ab, bloß nicht auf den Rasen treten!“, schallt es durch die Gegensprechanlage am Gartentor.
Und schon kurz darauf schreitet die großgewachsene Mittvierzigerin auf uns zu, mit einer Grazie, die hier, in ihrer westfälischen Heimat, als Inbegriff sportlicher Eleganz gilt: Der Rücken gerade, die Schritte lang, der Blick kritisch, aber trüb. Eine Frau, die jederzeit eine Dressurreitprüfung auf Weltniveau bestehen könnte, auch ohne Pferd. Als Flügelschulte uns die Hand zum Kuss reicht, stellt sie sofort klar: „Fotos sind tabu. Meine Gäste haben das Recht auf Privatsphäre.“
Flügelschultes Gäste, die allesamt zur verschwiegenen Familie der Cypriniden gehören, nicken stumm und drücken sich die Nasen an den Scheiben ihrer mondän eingerichteten Aquarien platt. Denn die gelernte Hundefriseurin Flügelschulte führt ein exklusives Ferienresort für Kiemenatmer, eine Haustierpension der gehobenen Klasse.
Erholung vom Großstadtstress
Zwar ist die Kundenkartei streng geheim, doch Gerüchten zufolge sollen sich im quellfrischen Heilwasser des Münsterlandes sogar millionenschwere Lieblingskois japanischer Yakuza vom Großstadtstress erholen.
Und womöglich stehen prominente Neuzugänge an. Die Kuschelkarpfen des ehemaligen VW-Vorstandsvorsitzenden Martin Winterkorn könnten als Dauergäste einziehen. Früher logierten die Fische in einem gemütlichen Teich vor seinem Anwesen im niedersächsischen Groß Schwülper, der auf Firmenkosten mit einer 60.000 Euro teuren Heizanlage ausgerüstet worden war. Doch seit VW wegen ein paar messtechnischer Unregelmäßigkeiten am Pranger steht, wächst auch die Kritik am großzügigen Umgang der Firma mit ihren ehemaligen leitenden Angestellten und ihren engsten Angehörigen.
Wie gut, dass es Tierfreunde wie Ann-Kathrin Flügelschulte gibt, die dem geschassten Winterkorn spontan ihre Hilfe anbot. Stolz geleitet sie uns in die Lobby der Nobelunterkunft, die sie aus dem Empfangsbereich ihres Wasserschlösschens gezaubert hat. „Als ich erfuhr, dass die böse Firma ihrem ehemaligen Chef womöglich nicht mal mehr die Heizkosten für den Teich bezahlen mag, da sagte ich mir: Ann-Kathrin, jetzt musst du handeln!“, erklärt die Fischkeeperin.
Flügelschultes Engagement für die sensiblen Schmuckkarpfen und ihre nicht weniger sensiblen Halter wird in den höchsten Kreisen geschätzt. „Mein erster Kunde war ein Privatier aus dem Saarland“, erinnert sie sich. „Der Mann musste zu einem Geschäftstermin in ein mittelamerikanisches Land, das nicht ausliefert, und mochte die Pflege seiner geliebten Fische nicht irgendwem überlassen. Am selben Abend noch ließ ich das Hauptbecken ausbaggern und eröffnete am nächsten Tag die erste und einzige Koi-Tagesstätte weltweit. Meine Koi-Ta“. Sie reißt den Vorhang zum Terrassenfenster auf, und wir bestaunen das Allerheiligste, das Herzstück von „Carp Diem“.
Der Anblick des Tummelteiches ist wirklich atemberaubend. In einem überdachten, im Mosaik-Stil befliesten Becken scheinen sich die majestätischen Geschöpfe, sechs an der Zahl, eindeutig wohlzufühlen. Zwei herrlich gezeichnete Tiere ziehen ihre Bahnen, vier weitere haben sich in eine ruhige Ecke zurückgezogen, wo sie mit sichtlichem Genuss gründeln.
So friedvoll der Anblick auch ist, so rechnet man doch reflexartig durch, wie hoch der Tagessatz im Flügelschultes Fischwellnessoase wohl sein mag. „Tja, natürlich sind die Unterhaltskosten immens und die Preise entsprechend“, errät die patente Karpfentante unsere Gedanken, „da gilt es, innovativ zu bleiben.“
Mit einladender Geste geht die Dame des Hauses voran, die Kois schwimmen an den Beckenrand, um sich ihr Leckerchen abzuholen, Lachshäppchen, die Flügelschulte auf einem Perlmuttlöffel serviert. Die braven Tiere warten ab, bis sie an der in der Reihe sind, und bedanken sich mit zackigem Schwanzflossenschlag. Wir sind beeindruckt.
Schmusepädagogik unter Wasser
„So ein Verhalten erreicht man natürlich nicht mit Schmusepädagogik“, gibt die ehemalige Internatsschülerin zu, „Zum Glück sehen viele Halter mittlerweile ein, dass falsch verstandene Fischliebe schwache Milchner und Rogner produziert.“ Wir folgen der Selfmade-Pädagogin zur ehemaligen Waschküche, in der die Neuzugänge trainieren.
„Kein Tageslicht, Kaltwasserduschen und gelegentliche Isolation in Tupperdosen, das mag für den Laien grausam klingen. Aber wie sollen die Tiere sonst das Überleben lernen? Schließlich kann es sein, dass ihre Besitzer sie plötzlich außer Landes schmuggeln müssen. Etwa, wenn gerichtsfeste Beweise auftauchen. In ein paar Jahren sind sie mir dankbar, glauben Sie mir. Und Sie kennen ja das Sprichwort: Was der Laich nicht lernt, lernt die Leiche nimmermehr?“
Sehr langsam und sehr rückwärts gehend verlassen wir diese besondere Frau mit ihrer ganz besonderen Geschäftsidee.
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