Die Wahrheit: Mückenstichmusik
Im idyllischen Schlosspark wundervollen Klavierklängen lauschen – was gibt es Schöneres? Gäbe es da nicht die Blutsauger und den Ohrenzucker.
D as Grauen kam, wie das Grauen immer kommt, ganz unerwartet und schleichend. Es hatte ein beschaulicher Sommerabend im Schlosspark werden sollen. Die Decke ausbreiten am Bach unter den alten Weiden, frische Ananas futtern, Federball spielen mit den Töchtern. Dazu ein wenig Musik: „Ludovico Einaudi kommt“, hatte ein Bekannter gesagt: „Hör dir den mal an, der hat den Soundtrack für ‚Ziemlich beste Freunde‘ gemacht, ganz wundervolle Klaviermusik!“
Für das Konzert war ein Areal direkt vor dem Schloss abgesperrt worden, als Zaungäste im Grünen würden wir dem Konzert des wundervollen Klaviermusikanten ganz kostenlos lauschen können. Pianisten, ich nehme sie alle, von Liszt und Gould bis zu Melnyk und Gonzales. Hauptsache, Klavier.
Wir waren nicht alleine, überall hatten sich leutselige Grüppchen hingelagert, um bei Prosecco versonnen der mutmaßlich grandiosen Klaviermusik zu lauschen. Eine Szene wie auf einem impressionistischen Gemälde von 1869.
Gut möglich, dass irgendwo auch ableistische Cismänner über ihre „White Privileges“ bondeten – oder wie man das heute nennt, wenn Jungs Frisbee spielen und ihre T-Shirts ausziehen. Mir ging es selbst zu gut, um darauf zu achten. Außerdem waren da die Stechmücken, ganze verschlagene Schwärme. Während drei Mücken durch den Stoff meiner Jeans vergeblich nach Adern stocherten, ein Ablenkungsmanöver, erwischte mich die vierte Mücke im Nacken.
Als die Musik begann, senkte sich eine weihevolle Stille auf die Szenerie. Eine charmante kleine Klavierfigur war das, die sich anmutig um sich selbst drehte, bevor sich ihr eine elektrisch verstärkte Geige beigesellte und endlich ein Schlagzeug etwas Wucht ins Spiel brachte – und aus. Nett. Das nächste Lied begann wieder mit einer simplen Floskel auf dem Piano, die sich kurz vorstellte und dann einfach stehen blieb, zuhörends von Streichern umzuckert und von pathetischer Percussion verstärkt – und aus.
So ging das weiter, eine bestürzend einfältige Frechheit folgte auf die nächste. Eine Miniatur mäanderte heran, drehte sich im Kreis – und wenn es eigentlich losgehen konnte, war schon wieder Feierabend. Saumselige Intros für Lieder, die niemals anfangen. Schluffiges Nichts, das sich in parfümierte Wölkchen auflöst. Wie Andreas Vollenweider und Richard Claydermann beim gemeinsamen Schaumbad.
Allmählich dämmerte mir: Es gibt offenbar Musik für Menschen, die Musik hassen und sich vor der Stille fürchten. Menschen, so verzweifelt auf der Suche nach Harmonie, dass sie 50 Euro bezahlen, ihre beste Sonntagskleidung anziehen und sich mit akustischen Wattebällchen bewerfen lassen – im guten Glauben, das sei „Klassik“.
Irgendwann gaben wir uns geschlagen und trollten uns aus dem Park. Auf Dauer erzeugte Einaudi ein Jucken, das schlimmer war als jeder Mückenstich. Genau genommen war die wundervolle Klaviermusik noch schlimmer, als die Stiche es waren, denn an denen konnte man sich wenigstens kratzen.
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