Die Wahrheit: Weltliteratur aus dem Schuhkarton

Es grenzt an eine literarische Sensation: Forscher entdecken unbekannte „Stilübungen“ des französischen Surrealisten Raymond Queneau.

Illustration: Ari Plikat

Bei Suhrkamp ist man bestürzt. Im Mai hatte der renommierte Verlag die berühmten „Exercices de style“ von Raymond Queneau, bekanntlich ein Grundlagenwerk der modernen Literatur, in neuer Übersetzung und erweitert um einige bisher unbekannte Texte herausgebracht – und schon ist das Buch veraltet: Neue Funde stufen die vermeintliche deutsche Gesamtausgabe der „Stilübungen“ zu einer kleinen Auswahl herab, ja machen sie zu Makulatur.

Aristide Faussain, Direktor der Bibliothèque nationale, die den Nachlass des 1976 gestorbenen Surrealisten verwaltet, hatte die Sensation verkündet: Eine Putzfrau habe unter einem Regal einen Schuhkarton mit der Aufschrift „R.Q. par H.D. 2007“ entdeckt, dessen Inhalt ein großes Bündel vergilbter Blätter war. Der berühmte Queneau-Forscher Pierre Bêtiser hat mittlerweile die Echtheit der Texte bestätigt. Offenbar waren sie von Queneaus Witwe über eine Nichte an deren letzte Pflegerin, Hélène Douter, gelangt, die den Wert der Schachtel erkannt und sie 2007 der Bibliothek übergeben hatte. Dort aber stellten die auf digitale Quellen spezialisierten Archivare sie ratlos beiseite.

Eine Alltagsbeobachtung wird literarisch variiert

Ausgangspunkt der „Stilübungen“ ist eine triviale Alltagsbeobachtung: In einem Pariser Bus wirft ein junger Mann mit langem Hals und Hut, um dessen Stumpen eine Kordel statt eines Bandes geschlungen ist, einem Herrn vor, ihn anzurempeln, und setzt sich, ohne eine Antwort abzuwarten, auf einen freien Platz. Wenig später sieht man den jungen Mann vor der Gare Saint-Lazare wieder, wo ihm ein Freund sagt, oben am Mantel fehle ein Knopf.

Diese banale Geschichte wird nun auf verschiedene Weise erzählt: als Fabel, in freien Versen, im Stil eines Klappentextes und so weiter. Gut 120 Variationen waren bekannt. „Mindestens fünfmal so viele kommen jetzt hinzu“, so Bêtiser, der verzückt hinzufügt: „Sie werden Sprachphilosophie, Psychologie und Urbanistik aufs Neue inspirieren!“

Die Wahrheit in der taz bringt exklusiv vier Proben in deutscher Übersetzung. Dass Queneau wie alle echten Dichter seiner Zeit voraus war und wusste, dass vierzig Jahre nach seinem Tod fast nur Krimis, Kinder- und Kochbücher gelesen werden, dürfte niemanden erstaunen. Anspruchsvoll, wie er war, schrieb Que­neau seine Kriminalgeschichte im Stil des Klassikers Arthur Conan Doyle:

„Ich hatte meinen Freund lange nicht gesehen und machte einen entsprechend langen Hals, als ich ihn in dem Pferdeomnibus erblickte, der im winterlichen London zur Victoria Station unterwegs war. Ich versuchte mich in dem Gedränge zu ihm durchzuhangeln, wurde jedoch von einem Mann energisch zurückgeschoben, so dass ich die Balance verlor, aber auf einen eben frei werdenden Platz fiel. Ich verlor Holmes aus den Augen, aber als ich an der Victoria Station ausstieg, gewahrte ich ihn wenige Meter vor mir. Es war bitterkalt, weshalb ich meinen Mantel am Kragen mit klammen Fingern zusammenhielt, als sich Holmes lächelnd umdrehte, sein Vergrößerungsglas aus der Tasche zog, sich die Sache besah und schließlich sagte: ‚Kombiniere, Watson, oben an Ihrem Überzieher ist ein Knopf ab!‘ Ich war erleichtert über diesen neuen Beweis seines Scharfsinns und dass mein Freund nichts verlernt hatte, aber ich hatte kaum angesetzt, ihm das mitzuteilen, als Holmes zu meiner grenzenlosen Überraschung fortfuhr: ‚Und Sie, mein Lieber, sind nicht Doktor Watson – Sie sind Mo­riar­ty!‘ – ‚Wie haben Sie das gemerkt?!‘ – ‚Weil ich mit Watson seit Jahr und Tag in 221 B Baker Street die Wohnung teile und ihn erst heute Morgen gesehen habe. Und Ihre Waffe, Moriarty, habe ich aus Ihrer Tasche gezogen, als Ihre Aufmerksamkeit von meiner Lupe gefesselt war.‘“

Ebenso selbstverständlich nahm sich Queneau fürs Kinderbuch Astrid Lindgren zum Vorbild:

„Als Pippi in den Bus stieg, fiel ihr ein merkwürdiger Mann auf, der einen viel zu langen Hals hatte und einen Hut mit einer Kordel statt einem Band oben rum trug. ‚Na, du bist aber ein merkwürdiges Mädchen‘, sagte der Mann, ‚deine Schuhe sind viel zu groß, und du hast ja einen Affen statt einer Puppe!‘ Noch ehe Pippi sagen konnte, dass das Herr Nilsson auf ihrer Schulter ist, zog der Mann sie an ihren Zöpfen. Pippi hob ihn hoch und warf ihn kopfüber aus der Tür. Kurz danach traf sie am Hafen einen dicken Mann mit kurzem Hals und Kapitänsmütze. Pippi sagte: ‚Papa!‘ Ihr Papa sagte: ‚Pippi! Auf nach Taka-Tuka-Land!‘ Pippi: ‚Hei hopp, das wird ein Leben! Dort brauch ich keine Plutimikation! Ussamkusser musser f­ilibusser!‘ Kapitän Langstrumpf strahlte gemütlich durch seine beiden buschigen Augenbrauen.“

Eine Überraschung aus der feministischen Zukunft

Und natürlich findet sich auch ein Rezept für eine Stilübung bei Queneau!

„Einen Pariser Linienbus nehmen und einen jungen Mann mit langem Hals unterheben. Einen Hut dazugeben, zuvor dessen Band um den Stumpen entfernen und durch eine Kordel ersetzen. Weitere Passagiere unter Rühren hinzufügen, und den jungen Mann erhitzen, bis er aufkocht und einen Passagier attackiert. Dann die Temperatur zurücknehmen, bis der junge Mann sich auf dem Grund des Kochtopfs absetzt. Ihn anschließend in ein bahnhofsplatzgroßes Gefäß füllen und einen Kameraden hinzugeben. Warten, bis sich um den jungen Mann eine Kruste, der sogenannte Mantel, gebildet hat. Darauf achten, dass der Mantel ganz geschlossen ist. Dann erst den fertigen Text servieren.“

Unter den jetzt gefundenen Texten finden sich auch Überraschungen. Gewiss, in seinem 1959 erschienenen Roman „Zazie in der Metro“ hatte Queneau die Pariser Abenteuer einer zwölfjährigen frechen Göre aus der Provinz geschildert; dass er aber auch über die mehr als 50 Jahre später erlebten Abenteuer einer ausgewachsenen Feministin in Wien Bescheid wusste, die er „Mademoiselle Stefanie Sargnagel“ nannte, verblüfft denn doch, ja grenzt an eine literarische Sensation:

„In eim total vollen Wiener Omnibus steht zur Hauptverkehrszeit eine 30 Jahre alte nichtformativ geformte Frau mit einer roten Bask*i/Innenmütze und einer Halswarze und einem 0,5-Bier in der Hand weil 0,33-Bier ist immer Hochkultur. Als bei eim Halt Leute ein- und aussteigen und ein Mann sie anrempelt disst sie den Chauvi: ‚Ich zerfick dich mit meim Binnen-I!‘ Und bevor der Kerl was antworten kann setzt sie sich auf ein freien Platz der wo gerade frei geworden ist. Irgendwie später ist die Frau auf dem Platz vor dem Bahnhof wo immer die Züge fahren. ‚Ich bin aufs Bahnhofsklo gegangen, Pipi vom Bier und so. Bilanz: Heute schon zweimal groß, einmal riesig, viermal klein, einmal winzig!‘, sagt sie stolz zu ihrer checkigen Begleiterin, und die sagt zu ihr 1: ‚Ich sag dir mal 1. Du musst dir hier oben einen neuen Kopf machen lassen!‘ Sie zeigt der Bitch die Stelle.“

Eine Neuausgabe ganz ohne Worte auf leerem Blatt

Wie verlautet, plant der Suhrkamp Verlag jetzt eine neue, mindestens fünfbändige Ausgabe von Raymond Queneaus „Stilübungen“ – darunter dann auch jenes kleine Meisterwerk, das Queneau auf die seinerzeitige deutsche „Kahlschlag“-Literatur der Nachkriegszeit münzte und die das surreale Geschehen aus dem Bus auf einem vollkommen leeren Blatt ohne Worte erzählt. Literature rien in höchster Perfektion.

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