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Die WahrheitPfiffige Wusel

Lob der Belgier: Eine dringend notwendige Hymne auf ein freiheitsliebendes, selbstironisches und gutmütiges Volk.

Ohne ihre tägliche Latte Bier könnten die Belgier gar kein vernünftiges Leben führen Foto: ap

Nachdem ich am vergangenen Dienstag den Fernseher angemacht hatte, platzte mir innert weniger Minuten der Kragen. Auf Phoenix war Ralph Sina, Korrespondent des Deutschlandfunks, zugeschaltet und ging mit der Dachlatte auf die blöden, unfähigen Belgier los. Er kochte, er schäumte. Diese Arschlöcher, hätte er am liebsten gesagt, diese Beamtenärsche achten doch tatsächlich das Recht, die Bürgerrechte, diese Penner halten sich zum Beispiel an ein Gesetz, demzufolge zwischen 21 und 5 Uhr keine Hausdurchsuchungen durchgeführt werden dürfen. Die belgische Polizei sei ein Pfeifenladen, ein unsäglich lascher, durch und durch inkompetenter Sauhaufen, das ganze Land im Grunde verfault und verkommen.

Wir haben von 1984 bis 1987 in Brüssel gelebt, ich habe an der Deutschen Schule im Stadtteil Wezembeek-Oppem Abitur gemacht. Diese drei Jahre waren eine fabelhafte Zeit, und ich scheue mich nicht, das Wort „Lebensgefühl“ in den Mund zu nehmen, wenn ich an Belgien (zurück-)denke. Ein Deutscher wie Ralph Sina, gewissermaßen der ideelle Gesamtgermane, spuckt aufs Trottoir, vernimmt er das Wort „Lebensgefühl“. Ekelhafte Ungezwungenheit! Widerliche Regellosigkeit!

Ich rief, um mir Luft zu machen, meine Eltern an. Mein Vater hatte damals einen hohen Posten bei der Nato inne. Ich schimpfte auf die deutsche Arroganz, in der sich nichts anderes als Züchtigungsfantasien und Stahlhelmgesinnung ausdrückten. „Wenn die Deutschen in den Stäben und Ausschüssen das Wort führten“, erzählte mein Vater, „war das beschämend. Ich habe auf Empfängen und bei Einladungen sehr oft kein Deutsch mehr gesprochen, nur Englisch oder Flämisch. Ich wollte nicht als Deutscher erkannt werden.“

Von den Deutschen zermalmtes Land

Belgien ist das beste Land, das ich kenne. Die Ardennen, in denen die Deutschen einst alles massakrierten und zermalmten, was ihnen im Weg stand, sind schön in ihrer kargen Sanftheit, die Ebenen Flanderns sind spröde und ein bisschen räudig, durchzogen von ziemlich lustlos angelegten Straßen und zusammengewürfelten Ortschaften. Bis heute fällt mir immer wieder ein Gedicht von Brecht über Flandern ein, das wir im Deutschunterricht bei dem großartigen, jede Form von Herrschaft verabscheuenden Lehrer Theo Kraft lasen: „Nebel verhüllt / Die Straße / Die Pappeln / Die Gehöfte und / Die Artillerie.“

Nachts brummten wir von Brüssel nach Oostende, ans Meer, dorthin, wo der geniale Maler James Ensor geboren wurde und starb. An der schrottigen Promenade glotzten wir behaglich ins Nichts und mampften Krabben, dann stiefelten wir in eine der vielen anheimelnd zerschlissenen Kneipen am Kai, tranken gesegnete belgische Biere und rauchten uns rund.

Musstest du damals auf ein Amt, standen unter den Rauchverbotsschildern überall enorme Aschenbecher. Vor etlichen Jahren bedauerte ein belgischer Ministerpräsident mal öffentlich (seinen Namen habe ich vergessen), dass er bloß zwanzig Bier pro Tag packe. Sein Vater, der steinalt geworden war, habe frühestens nach dem dreißigsten Feierabend gemacht.

German Angst – Belgian Punk. Hier Kontrollwahn, dort hat man einen im Kahn

Mein Fahrlehrer war ein knorriger, in sich ruhender Bauer. Nach acht Fahrstunden hatte ich den Wisch, samt Motorradführerschein – und nachdem mir im Prüfungszentrum ein Tausend-Francs-Schein aus dem Autofenster gefallen war.

Wir bretterten in die Innenstadt und becherten im Jugendstillokal Falstaff an der Börse das faustische Duvel, zischten in Cafés an der Gare du Nord zwischen Molenbeek und Schaerbeek das ehrlich-schlichte Jupiler und schmissen in Rumpelwirtshäusern rund um die Grand Sablon die Zeit weg. Ein einziges Mal wurden wir auf dem nächtlichen Heimweg am Kreisverkehr in Tervuren von der Polizei kontrolliert. „Sie sind ja total besoffen“, sagte mir der Polizist auf den Kopf zu. Ich: „Sie aber auch.“ Er: „Stimmt. Kommen Sie gut nach Hause.“ Man denke an eine x-beliebige Begegnung mit französischen Polizisten – oder mit deutschen.

Ich habe mich seither nie wieder so unbedrängt, so frei gefühlt. Die Belgier sind wunderbar. Bauvorschriften? Ach was. Wann soll der Bus kommen? Wir trinken noch einen. Telefon geht nicht? Flicken wir eine Behelfsleitung hin. Die Ölpfanne leckt? Sie wollen eine Quittung?

Land der proletarischen Fantasie

Die ausgeklügelste Haute Cuisine der Welt und in jeder Frittenbude Soßen- und Wurstschweinereien, in denen die proletarische Fantasie augenfällig wird – nicht umsonst spricht man auch vom „kleinbürgerlichen Anarchismus“ der Belgier, von ihrer klassenübergreifenden hedonistischen Kreativität.

Das Land ist menschlich, weil alles erlaubt und provisorisch und improvisiert und verwuselt ist. Ordnung ist verdächtig und wird verlacht, Autorität gilt als Erkältung, die zum Glück wieder vorbeigeht, auf Pathos wird gepfiffen. Auf die Welt, die sie mögen, kommen die Belgier mit Selbstironie, mit einer grundfreundlichen Wurschtigkeit und mit einer gutmütigen Verachtung des Arbeits- und Effizienzfetischs.

Im aktuellen Spiegel wird Belgien als „Betriebsunfall der Geschichte“ runtergemacht. „Comics, Bier, Schokolade, Fritten und Skandale“ – fertig. Die chaotisierten Behörden seien ein Sumpf, die Sicherheitsapparate wegen der sprachlich-administrativen Zersplitterung Karnevalsvereine, Belgien sei ein „failed state“. Dass Sorglosigkeit und Ungebundenheit des Lebens womöglich höchste Güter sind, kommt keinem hiesigen „Presseschmierer“ (G. Polt) mehr in den Sinn. German Angst – Belgian Punk. Hier Kontroll- und Ordnungswahn, dort hat man einen im Kahn.

Für nationalstaatlichen Krampf haben die Belgier so viel übrig wie für Panzer. Wenn’s so sein soll, kommen sie fast zwei Jahre lang locker ohne Regierung aus. Oder zwanzig. Dass alle bisherige Geschichte unter der Knechtschaft der Besitzenden eine Katastrophe gewesen ist, wusste Marx, der sich in Brüssel vor den preußischen Häschern in Sicherheit gebracht hatte und dort mit Engels – unter kräftiger Zufuhr geistiger Getränke – das „Manifest der Kommunistischen Partei“ schrieb.

Im Brüsseler Lokal Estaminet, in dem René Magritte regelmäßig verkehrte, prangt eine Parole an der Wand: „Jeder Mensch hat täglich Recht auf 24 Stunden Freiheit.“

Ich trinke jetzt ein Fläschchen Trappistes Rochefort 6 mit 7,5 % Alkohol – auf Belgien, auf die Belgier.

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4 Kommentare

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  • Vielen Dank Herr Roth für diesen Artikel! Ich habe selbst vor nach Brüssel zu ziehen und höre gerade von jedem nur 'oh Gott!Bist du dir sicher? tu das nicht!'. Darum freue ich mich gerade sehr über ihre Beschreibung, weil es sich mit meiner Wahrnehmung von Belgien und seinen Menschen deckt. Mein Bruder hat drei Jahre dort gelebt und sich sehr wohl gefühlt. Und nachdem ich nun 4 Jahre in Holland gewohnt habe muss ich sagen, dass mir die belgische Mentalität um einiges näher liegt. Dankesehr, tat einfach gerade gut das zu lesen:)

  • Die belgische Lebensart hat wohl nix mit einer objektiven, in diesem Artikel leider aber nicht erfolgten, Beurteilung/ der Effizienz und Fähigkeit des belgischen Polizeiapparats zu tun. Für mich trifft es das Thema nicht. (Vielleicht ist das auch nur eine Ablenken - aus deutscher Sicht- von eigenen schlummernden Defiziten, die solange nicht offensichtlich werden, wie aus Zufall nix passsiert, wie neulich ein Terror - und Sicherheitsexperte im deutschen Fernsehen meinte.)

    Und das Belgier nicht nationalistisch seien, an welchen Fakten macht das die Autorin/ der Autor fest? Ich könnte jetzt auch Einzelbeispiele aufzählen, dass man in Tervuren überall geschmiert fand, "Tervuren wo Flamen zu Hause sind", dass man mittlerweile komisch angeschaut und behandelt wird, wenn man da man kein Flämisch kann dort versucht auf Französisch einzukaufen , dass mein Bruder mit dem Spruch "Ihr sch.. Deutschen" vom Fußballplatz vergrault wurde, .. aber ich bin auch keine Journalistin

     

    und natürlich die Pommes sind sehr gut , aber was hat das mit einer guten Integration und einem sich kümmern von wenig gut betuchten Immigranten zu tun, zu denen wir nicht gehörten und vor allem aber mit einer effektiven Polizei..

  • Das klingt alles sehr sympathisch und dazu kommt - soviel ich weiß - eine mir persönlich wohltuende sozialistische Tradition wie auch eine sehr spezielle künstlerische Originalität.

    Allerdings leben wir nicht mehr in den wunderbaren 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts.

    Deswegen muss sich jeder fragen, der Ihrer Argumentation folgen möchte, was wohl die Angehörigen der Terroropfer zur Arbeit der belgischen Polizei und der Sicherheitsdienste sagen würden.

    • @Manfred Kitzinger:

      Ein Kurzbesuch in Brüssel vor etwa 10 Jahren ist alles, was mich mit Belgien verbindet. Ich könnte also gar nicht mitreden, wüste ich nicht eines ganz genau: Dass mensch einer von den Guten ist, hilft ihm selten, wenn die Bösen erst einmal dafür gesorgt haben, dass das Bedürfnis nach Feinden grassiert.

       

      Übrigens ist das Hotel, in dem wir in Brüssel untergebracht waren, mit Stacheldraht und Stahltoren gesichert gewesen. Es läge, hat man uns erklärt, in einer unsicheren Gegend. Hätte ich nicht angenommen, dass der Reiseveranstalter es genau deswegen ausgewählt hat, hätte ich damals womöglich genau die Vorurteile entwickelt, an die die Attentäter hätten anknüpfen können – und selber auch ein Bedürfnis nach Feinden.

       

      Merke: Eine permanent besoffene Polizei ist auch keine Lösung.