piwik no script img

Die WahrheitDie ermordete Mutter

Delinquentes Verhalten in der Nachbarschaft entsteht auch dank Vermeidungsstrategien von Menschen, die im selben Haus wohnen.

I ch kannte mal einen Mann, der später seine Mutter ermordet hat. Er wohnte zwei Stockwerke über uns unterm Dach, als ich elf oder zwölf war. Sein Name war Manfred. Die Nachbarschaft munkelte, Manfred sei ein schwerer Trinker. Ich kannte ihn nur aus dem Hausflur. Er begegnete mir dort immer freundlich, war mir aber dennoch unheimlich: weil er komisch roch, mit hinterlistigem Tonfall Selbstgespräche führte und einen irren Blick hatte.

Abends hörte man oft lauten Streit von oben, schrille Schreie der Mutter, laute Flüche von Manfred und Gepolter und manchmal wurde gar die Polizei alarmiert. Die konnte aber nie etwas ausrichten, weil weder Mutter noch Sohn jemals einen Streit zugeben wollten. Manfred war um die vierzig. Die Mutter kam mir vor wie mindestens tausend Jahre alt.

Einmal traf ich Manfreds Mutter unten an der Haustür. Sie war sehr gebrechlich und hatte zwei schwere Einkaufstüten dabei. Als wohlerzogenes Mädchen schleppte ich ihr die Einkäufe nach oben – und war zum ersten Mal in der Wohnung.

Unheimlich war es dort, düster und muffig. Die schrägen Fenster waren mit Alufolie verklebt, und statt Schränken gab es nur graue Vorhänge. Die alte Frau zog sich die Schuhe aus, legte sich auf ein verschlissenes Sofa und begann sofort vom Dreißigjährigen Krieg oder so etwas zu erzählen. Woran ich mich bis heute noch erinnere ist, dass ihre Füße vom Frost verkrüppelt waren und dass sie als junges Mädchen auch mal Läuse gehabt hatte.

Gefühlte vier Stunden hörte ich ihren Geschichten zu. Dann bekam ich das Gefühl, ich müsste mich mal wieder bei meiner Familie blicken lassen. Manfreds Mutter schenkte mir zwei Mark, ich bedankte mich artig und ging nach unten.

Zu Hause drehte dann meine Mutter fast durch! „Wo warst du so lange?“ Ich erzählte es ihr. „Du warst wo?!“ Meine Mutter fing an zu weinen. Sie fragte mich, ob ich mir denn keine Gedanken gemacht hätte, dass Manfred dort hätte auftauchen können, was dann alles hätte passieren können. Ich fühlte mich total ungerecht behandelt, fing auch an zu weinen, ging in mein Zimmer und schleuderte das Zweimarkstück aus dem Fenster auf das Wintergartendach unserer Vermieter, weil ich es nicht mehr haben wollte.

Etwas später wollte ich es aber doch wiederhaben und versuchte, es mit einem Staubsauger zurückzubekommen, wobei sich eins der Saugerrohre löste und laut scheppernd auf das Dach fiel und dort einen gewaltigen Sprung im Glas verursachte.

Ich baute dann aus einem Stock, den ich eigentlich zu einem Indianerspeer hatte schnitzen wollen, und einer Handvoll zusammengeklumptem Tesafilm eine Vorrichtung, mit der ich sowohl Staubsaugerrohr als auch Geldstück bergen wollte. Was ich aber erreichte, war nur, dass jetzt auch noch ein Klumpen Tesafilm auf dem Dach lag.

Nicht lange danach zogen wir woanders hin. Kaum waren wir weg, erschlug Manfred tatsächlich seine Mutter im Streit. Der Schuft! Hoffentlich ging es nicht um die zwei Mark.

40.000 mal Danke!

40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!