Die Wahrheit: Der Smartomat

Ein genialer Gehirnakrobat: In Berlin lebt ein ganz normaler Teenager mit vollkommen außergewöhnlichen Gedächtnisfähigkeiten.

Jemand hält ein Smartphone vors Gesicht

Die meisten Jugendlichen heute sind gewöhnliche Smombies Foto: dpa

Es sind sechs bis acht Jugendliche, die in der kleinen Grünanlage sitzen, hier in Berlin-Marzahn. Gegenüber ist ein Discounter, auf der anderen Straßenseite eine Bushaltestelle. „Komm“, sagt einer der Jungs zu seinem Kumpel, „mach noch mal!“ Ein junger Mann im blauen Kapuzenpullover denkt kurz nach und sagt dann: „Was ist zwölf geteilt durch vier?“ Er stellt diese Frage seinem Platznachbarn, einem unscheinbaren 19-Jährigen mit blonder Wuschelfrisur und ausgewaschenem T-Shirt. „Drei“, sagt der, ohne lange zu überlegen. Ein anderer aus der Gruppe tippt aufgeregt auf seinem Smartphone herum. „Stimmt“, sagt er. Die anderen jubeln.

„Der Markus ist ein menschlicher Taschenrechner“, ruft der Kapuzenpulliträger. „Wahnsinn!“ – „Ist doch nichts“, sagt der Gefeierte. Markus hat gerade vier solcher Rechenaufgaben ohne Handy oder Taschenrechner gelöst. „Der kann noch mehr“, sagt einer aus der Gruppe. „Neulich wollte ich von Tempelhof nach Friedrichshain, und da hat der Markus mir gesagt, wie ich da am besten fahre mit den Öffentlichen. Ohne BVG-App oder so. Mach doch noch mal, Markus? Ich bin jetzt am Columbiadamm und muss ins Berghain.“

„Na gut“, antwortet Markus, „Also, du läufst entweder zum Platz der Luftbrücke, fährst mit der U6 bis Friedrichstraße und dann mit der S-Bahn – S5 oder S7, ist egal – bis Ostbahnhof. Oder du nimmst den Bus, der 104er fährt bis Boddinstraße, dann mit der U8 bis Jannowitzbrücke, da kannst du dann entweder noch in die S-Bahn für eine Station oder das Stück läufst du. Oder du kriegst den 248er Bus, der fährt dich bis zum Alex, und dann nimmst du wieder die S-Bahn, wie gehabt, der Bus kommt aber auch Jannowitzbrücke, Ostbahnhof und Warschauer Straße vorbei. Oder …“

„Wahnsinn!“, unterbricht ihn der Kapuzenpulliträger, „Seh’n Sie, der hat das alles im Kopf. Der Markus, der ist ein menschliches Smartphone. Markus, wie spät ist es?“ – „15 Uhr 41“, sagt Markus, nachdem er auf eine Uhr geschaut hat, die auf der anderen Straßenseite steht.

Er ist eine Dating-App für Freunde

Markus ist aber auch eine Dating-App, obwohl er selbst keine Freundin hat. „Die Petra“, hat er neulich auf einer Party zu einem Freund gesagt, „die kuckt immer rüber. Die steht auf dich.“ Und tatsächlich. Seit diesem Tag sind die beiden zusammen. Markus kann aber auch das Wetter voraussagen (“Es ist sonnig und warm“, sagt er mit Blick zum Himmel) oder als Kalender aushelfen (“Heute ist Dienstag“).

In seinem Freundeskreis ist Markus damit ein Phänomen. Aber er scheint kein Einzelfall zu sein. Professor Friedrich Groß von der Universität Konstanz nickt, als wir ihn mit Videoaufzeichnungen von Markus konfrontieren. Auch er hat schon von solchen Fällen gehört. „Früher“, sagt er, „hat es offenbar noch mehr Menschen mit diesen Sonderbegabungen gegeben. So wurde zum Beispiel das sogenannte Kopfrechnen in geheimen Schulen von Generation zu Generation weitergegeben. Oft mithilfe sogenannter Kreidetafeln, die am Ende des Unterrichts gereinigt wurden, so dass keine Aufzeichnungen überliefert sind.“ All dies klingt nach finsterstem Mittelalter, ist aber nach Aussage von Prof. Groß erst wenige Jahrzehnte her.

Es gibt Berichte über sonderbegabte Menschen, die sich alle möglichen Dinge merken können

Markus hat noch mehr Fähigkeiten. Eine davon nennt er „Allgemeinbildung“. Dass London die Hauptstadt von England ist, wissen die meisten seiner Freunde. Wer aber zurzeit Ministerpräsident von Baden-Württemberg ist, weiß nur Markus. Selbstverständlich wird sein Wissen wieder sofort von einem seiner Freunde mit dem Smartphone überprüft, der seine Recherche mit „Scheiß die Wand an“ anerkennend kommentiert.

Er kann sich die normalsten Dinge merken

Wie kann man sich solche Fakten überhaupt merken? Und vor allem: Wieso weiß man, wer gerade Ministerpräsident von Baden-Württemberg ist? Markus zuckt mit den Schultern. „Vielleicht hab ich es im Radio gehört oder irgendwo gelesen.“

Professor Groß kann diese Vermutung bestätigen. Seit einigen Jahren forscht er auf diesem abseitigen Gebiet. „Ja, es kommt immer wieder vor, dass einige der Informationen, mit denen wir tagtäglich bombardiert werden, in unserem Gehirn hängen bleiben und abgespeichert werden.“

Er hofft, dass Markus damit umgehen kann. „Früher wurden solche Menschen aus der Gesellschaft ausgestoßen, wurden Besserwisser oder Klugscheißer genannt und konnten mit ihren Sonderbegabungen nur auf dem Rummel oder im Zirkus auftreten. Heutzutage werden sie manchmal Telefonjoker bei ‚Wer wird Millionär?‘. Ich kann dem Jungen nur viel Glück wünschen.“

Welche Pläne hat Markus für seine Zukunft, fragen wir ihn. „Eigentlich nichts Besonderes“, sagt er, „vielleicht ’ne Freundin, später mal Kinder. Aber dafür müsste ich mir wahrscheinlich erst mal ein Smartphone kaufen. Bisher hab ich keins gebraucht.“

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kari

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