Die Wahrheit: Drama, Baby!
Auch Wörter können ihre Bedeutung ändern oder anders verwendet werden. Besonders crazy geht es bei Begriffen für abweichende Seelenzustände zu.
Jeder will normal sein, dabei ist das Normale dem Durchschnittlichen, Mittelmäßigen und Gewöhnlichen wesensverwandt. Interessant sind und bemerkt werden, weil sie auffallen, die Abweichungen; während das Normale, Angepasste und Vernünftige langweilig ist, übersehen wird oder Überdruss hervorruft. Es wird also seinen Grund haben, dass Dinge, die aus dem Rahmen fallen, mit Vokabeln aus dem Gegenreich der Unvernunft und Torheit belegt werden wie „Wahnsinn“, „toll“, „verrückt“ „crazy“ oder, da wird das Abirren vom rechten Weg ausdrücklich gefeiert, mit „irre“.
„Es war ein tolles Jahr, in dem ich wahnsinnig viel gelernt habe“, resümiert Juliane Leopold von BuzzFeed Deutschland im taz-Interview; „man braucht einen Schuss Wahnsinn“, gesteht Kontext zufolge auch eine Journalistin, die mit einer Reportageseite im Internet Geld verdienen will. „Irrsinniges Talent“ sagt die taz dem Dokumentarfilmer Johannes Holzhausen nach; eine Juristin bekennt (ebenfalls in der taz), ihr Beruf mache ihr „unheimlichen Spaß“; und Studenten sind gegen Semesterende selbstredend „wahnsinnig gestresst“ (so das Göttinger Universitätsmagazin Augusta). Der Druck der Normen und Regeln ist offenbar so groß, dass schon eine irre kleine Abweichung vom Mittel genügt, damit etwas als crazy gilt.
Irre normal
Man kann vermuten, dass der verrückte Bedeutungswandel dieser tollen Wörter im 18. Jahrhundert einsetzte, als mit dem Aufstieg des Bürgertums das Rationale und Nützliche als Ideal etabliert wurde und sich folglich, bewusst oder unbewusst, eine verrückte Gegennorm, eine Opposition herausbildete. Möglicherweise begann der Wandel aber schon früher wie im Fall „toll“. Das Adjektiv bedeutete anfänglich, so teilt es Grimms „Deutsches Wörterbuch“ mit, „des oder wie des verstandes beraubt und darnach sich geberdend, unsinnig, tobsüchtig, närrisch“: Aber, heißt es weiter, schon im späten 16. Jahrhundert drückt „‘toll‘‚ auch gute eigenschaften aus, indem der begriff des ausgelassenen und lärmenden übergeht in den von lustig und fröhlich, der des wunderlichen und auffallenden in den von bewundernswert, zum verwundern gut, grosz und schön“.
Das Grimm‘sche Wörterbuch verzeichnet sogar einen mittelhochdeutschen Beleg, und wirklich begann bereits im hohen Mittelalter die Vernunft langsam in die Menschen zurückzukehren. Bis zur Diktatur des Sachzwangs, der irre alternativlos regiert, war es freilich ein wahnsinnig langer Weg. Inzwischen ist der tolle Sprachgebrauch nicht nur unheimlich inflationär geworden, sondern geradezu – irre normal. Deshalb haben in den letzten Jahren einige weitere Wörter wie verrückt, nein: „dramatisch“ an Beliebtheit gewonnen. „Dramatisch“ bedeutete früher „spannend, bedrohlich“, unter Philologen auch: „in Form eines Theaterstücks“. Heute verfügt Holland über eine „dramatisch verjüngte“ Fußballmannschaft (taz), ein Konzern erzielt „einen dramatisch höheren Gewinnanteil“ (taz), und „die Zahl der Demokratien in der Welt wuchs dramatisch“ (Spiegel) – nehmt euch also in Acht, Leute! Auch die Patienten sehen sich besser vor, denn im Kampf gegen Krankenhausinfektionen sind mancherorts „die Erfolge dramatisch“ (Spiegel).
Dramatisches Ende
Der Fußballtrainer Jürgen Klopp fühlte sich „für eine Niederlage dramatisch verantwortlich“, und dass in Deutschland mehr englische Literatur als türkische gelesen wird, findet eine Türkischübersetzerin „nach 50 Jahren Migration dramatisch“. Ein „dramatisches Ende“ aber nahm laut Göttinger Tageblatt vom 2. 10. 2012 Dirk Bach, der kurz vor einer Theaterpremiere starb – „woran, war gestern noch völlig unklar“. Dramatischerweise könnte er friedlich im Schlaf gestorben sein.
„Dramatisch“ bedeutet also nicht „dramatisch“, sondern „drastisch, beachtlich, groß, viel, sehr“, auch „unverhältnismäßig“, „unerwartet“, „unnormal“ und mitunter gar nichts. Man könnt’ von so viel Drama, wo weit und breit keines ist, ein Trauma erleiden, schon weil auch ein „Trauma“ längst kein Trauma mehr ist. Eigentlich handelt es sich um eine gewaltsame Verletzung körperlicher Natur oder seelischer Art. Sprachlich ist ein Trauma bloß eine ungute Erinnerung: Hollands Fußballer leiden an einem „Final-Trauma von 2010“, behauptete das Göttinger Tageblatt 2014; wie sehr es die Kicker lähmte, konnte man im selben Jahr sehen, als die Elftal gegen die Spanier mit 5:1 eine drastische, nein: dramatische Revanche nahm für die Endspielniederlage vier Jahre zuvor.
Milliarden sind traumatisiert
Für die Grünen gilt seit der verkorksten Bundestagswahl 2013: „Ganze 63 Bundestagsabgeordnete werden es als kleinste Opposition schaffen müssen, die traumatisierte Partei zu heilen.“ (taz) Nicht besser dran sind die Katholiken: „Benedikt XVI. lässt eine traumatisierte Gemeinde hinter sich“, schrieb die taz nach seinem Rücktritt – über eine Milliarde Katholiken sind seither in psychiatrischer Behandlung und leisten den Journalisten Gesellschaft. Sie, liebe Leser, sind von dieser irre dramatischen Pointe hoffentlich nicht traumatisiert!
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