Die Wahrheit: Gleichsam deglasiert
Sprachkunde: Wörter werden in den Medien grausam entstellt. Und selbst bei Kracht kracht‘s im Text gleichsam gewaltig.
Wer kennt schon alle Wörter? Niemand. Kennen Sie zum Beispiel das Verb „deglasieren“? Die Leser der Passauer Neuen Presse lernten es kennen, als sie im Sportteil meldete: „Deutschland-Achter wird seiner Favoritenrolle gerecht und deglasiert England“. Auch das schöne Substantiv „Schweigstelle“ ist Ihnen vielleicht unbekannt, im Unterschied zu den Lesern des Reklameblättchens Blitz: „Das Amtsgericht Neustrelitz soll eine Schweigstelle des Amtsgerichts Waren werden.“
Während im Dschungel „ein Eingeborener an Tuberkolese stirbt“ (Hessische/Niedersächsische Allgemeine), leiden in Deutschland manche Schreiber bloß an der Orthografie. Oder haben es an den Ohren: Man schreibt, wie man hört, und daher war vor einiger Zeit ein internationales Beratergremium in der Ukraine tätig, das „für Unabhängigkeit und Expertise birgt“ (taz) statt für das richtige Verb.
Phonetisch geht‘s auf spirituelle Höhen
Die Verwechslung phonetisch ähnlicher, aber semantisch grundverschiedener Wörter ließe sich durch „das allmähliche Verschwinden der Gedanken beim Schreiben“ (F. W. Bernstein) erklären, vielleicht auch durch einen Anfall von Geistesabwesenheit infolge Überlastung, Müdigkeit, Eile oder was weiß ich. In anderen Fällen ist der Geist anwesend, schwebt jedoch in höheren Bewusstseinssphären: Dann wird eine simple Urteilsverkündung zur fast religiösen „Urteilsverkündigung“ (hr 1) erhoben, während Jonathan Franzen, der seinen neuen Roman „einen Monat nach der Erscheinung in deutscher Sprache“ (Reklamezeitung Extra Tip) auf einer Lesereise präsentiert, seinen Besuchern womöglich übersinnliche Erlebnisse zuteilwerden lässt.
Dass der Redakteur, nachdem er aus spirituellen Höhen auf dem Boden der Tatsachen gelandet ist, in einer auf Eigentum gegründeten Gesellschaft einen „Machthaber“ als „Machtinhaber“ (taz) bezeichnet, ist nur zu begrüßen. Ebenso versteht es sich in einem auf Herrschaft gegründeten Gemeinwesen, dass jemand, der ein wenig Macht über die Sprache hat, Wörter ein wenig ummodeln darf: Es heißt also nicht „zwischenzeitlich“, sondern „zwischenzeitig“ (Göttinger Tageblatt), auch nicht „abergläubisch“, sondern „abergläubig“ (NDR 4) – vielleicht halten es ja manche für ein Wortspiel, was es schon bei der Sächsischen Zeitung nicht war, als sie über Schulen berichtete, wo „Kinder mit Handycap“ integrativ unterrichtet werden.
Wenn aber ein Bürgermeister laut Hamburger Abendblatt „in seiner launischen Gastrede die Gemeinsamkeiten hervorhob“ (gewiss nicht die mit dem Adjektiv „launig“), dann könnte man das Verfahren „Humpty-Dumpty-Prinzip“ nennen nach der Figur in „Alice hinter den Spiegeln“, die den Wörtern nach Lust und Laune die Bedeutung gibt, die ihr gerade passt. Aber Humpty Dumpty ist bloß ein Kauz – während der Schreiberling, der in der taz von der „Rehabilitation“ der von der Nazijustiz Verfolgten schrieb, dummerweise unterstellt, dass diese Leute eben doch krank waren.
Knapp vorbei ist manchmal ganz daneben. Dazu braucht es nicht einmal große und schwere Wörter wie „Rehabilitierung“. Die Wörtchen „indes“ und „indessen“ meinen „jedoch“, werden indessen neuerdings auch im Sinn von „unterdessen“ verwendet; und vice versa, z. B. in der taz: „Der 23. Februar ist seit 1918 Tag der Roten Armee. Der Februar 1918 ist unterdessen kein Ruhmesblatt für die Rote Armee. Sie war gerade dabei, als Verlierer aus dem Krieg auszuscheiden.“ Die ganze Zeit als kein Ruhmesblatt bekannt und also ein Feiertag: ein großes Volk, diese Russen!
Die Rote Armee feiert auch ohne Anlass
Nach dem Februar aber startete die Rote Armee durch und setzte neu an. Dagegen ist ein „Durchstarten von Anfang an“ (Göttinger Tageblatt) unmöglich: Durchstarten muss der Pilot, wenn er den Landeanflug abbricht und die Maschine wieder beschleunigt und nach oben zieht; „von Anfang an“ kann man nur starten oder loslegen.
Unterdessen, Quatsch: Indes, Wörter können alles Mögliche bedeuten, und manchmal ist kaum festzustellen, was. Hier gebührt dem Adverb „gleichsam“ gleichsam die Poleposition: „Die qualitative Profilierung des GT ist sichtbar und bietet die Chance für gleichsam neue Akzente im Wirtschaftsbereich“, schwallt es aus dem Göttinger Tageblatt, in dessen Sportteil es gleichsam weitergeht, denn Bayern-Trainer Guardiola „hat, um gleichsam erfolgreich zu bleiben, seine Elf stets verändert und die Taktik immer am Gegner ausgerichtet“.
Gleichsam noch besser kann es Christian Kracht. Von einem Seemann schreibt er in seinem Roman „Imperium“, er trachte, „sein Kapitänspatent zu erwerben, und überlege, gleichsam der Kaiserlichen Marine beizutreten“; und dass Einstein bald „das gesamte Wissen der Menschheit auf den Kopf stellen würde, war Engelhardt“, dem Helden des Anfang des 20. Jahrhunderts spielenden Romans, „gleichsam unbekannt“.
Gleichsam ins Schwarze trifft keines seiner Gleichsams, sie meinen irgendwie irgendwas oder nichts. Oder wissen Sie es gleichsam?
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