Die Wahrheit: Mut zur enthemmten Nudellücke
Endlich ist er da: Der Wahrheit-Party-Knigge! So feiern Sie unbeschwert und inspiriert vom hippen Weltgeschehen.
Immer mehr Menschen sind verunsichert, wenn sie zu einer Party eingeladen werden. Die Komplexität des gesellschaftlichen Alltags im 21. Jahrhundert stellt dem gemeinen Partygänger eine Vielzahl an Herausforderungen in den Weg.
Früher war Feiern einfach: Party-Sympathisanten vereinbarten Ort und Uhrzeit, betranken sich hemmungslos und fuhren gemütlich mit dem eigenen Auto zurück. Heute werden im Vorfeld der Party Whatsapp-Gruppen „für die Orga“ gegründet, bei Instagram Outfits diskutiert und per Uber Rückfahrtmöglichkeiten ausgelotet.
Kaum jemand ist noch imstande, das hohe Gut des Rausches gänzlich unbefangen wahrzunehmen. Bohrende Fragen schießen allerorten durch die Köpfe: Darf ich vor dem geselligen Treffen mit den Arbeitskollegen noch kurz beim Komasaufen meines Bruders vorbeischauen? Muss ich auf der Tanzfläche sofort twerken, oder warte ich mit dem Arschwackeln, bis mein Chef loslegt? Und: Was sollen bloß die anderen anziehen, um cool auszusehen? Ich habe doch schon die hippsten Klamotten an.
Zeitlos eleganter IS-Style
Freshe Fashion-Ideen findet der Partygänger, indem er sich vom Weltgeschehen inspirieren lässt. „Nee, ist echt total schlimm, was diese Typen vom ‚Islamischen Staat‘ da im Irak und so veranstalten. Aber mal vom Politischen abgesehen: Die haben mit ihrem schlichten Schwarz und der weißen Schrift echt einen zeitlos eleganten Dresscode.“ Eingehüllt in eine IS-Flagge, ist der Gast zudem gegen plötzliche Zugluft gerüstet.
Eine Quelle nie endender Kreativität und Garant, dass sich das Selfmade-Kostüm beim kommenden Gala-Abend nicht schon während der ersten Dance-Moves in alle Himmelsrichtungen verflüchtigt, sind die allseits beliebten Nähkurse. Seit geraumer Zeit werden sie in jeder gentrifizierten Nachbarschaft angeboten. Mit wenigen gezielten Stichen lässt sich der nikotinverfärbte Vorhang aus dem Wohnzimmer als hottes Ballkleid upcyclen oder das alte schweißgetränkte Fußballtrikot aus Polyester als slickes Bandana umnähen.
„Kannst du vielleicht ein leckeres Salätchen mitbringen?“ Diese Frage führte früher dazu, dass dem Gastgeber der Unterkiefer gebrochen wurde. Heute diskutieren die Geladenen darüber in Koch-Foren, wo Ehemänner als „GG“ bezeichnet werden, was für „Göttergatte“ steht und die Emanzipation um 500 Lichtjahre zurückwirft.
Soll es ein schlichter veganer Gurkensalat werden? Und sind die Gurken aus dem eigenen Garten wirklich vegan, wenn der süße Igel, der sein Heim in der Kompostecke bezogen hat, nachts daran leckt? Oder bilde ich doch lieber den Nahostkonflikt ab mit einem deftigen israelisch-arabischen Nudelgericht aus der Fusion-Küche?
Abgelaufene Wurst-Knacker
Hier ist Mut zur Lücke gefragt. Es dürfen unbedingt die kürzlich abgelaufenen Wurst-Knacker der Supermarkt-Eigenmarke sein, die so ungezwungen im eigenen Wurstwasser umherdümpeln. In Zeiten biologisch-dynamischer Lebenseinstellungen fällt der Gast so auf und hebt sich angenehm von der Masse ab. Natürlich sind diese Würstchen derart weit entfernt von Political Correctness wie Selbstmordattentäter auf einem irakischen Bazar. Aber ohne Feindbilder hat sich gesellschaftlich schließlich noch nie etwas gewandelt.
Sollte der Gast eine Einladung zu einem sommerlichen Barbecue erhalten haben, bietet sich ihm eine einzigartige Gelegenheit, tiefe Naturverbundenheit zu demonstrieren. Wer unter großem Staunen der anderen Gäste ein lebendiges Schwein mit auf die Party bringt, vor Ort köpft und ausbluten lässt, demonstriert ein ungezwungenes Verhältnis zum eigenen Essen.
Dabei sollten ruhig die anwesenden Kinder mit eingebunden werden, um ein pädagogisches Surplus zu erzielen. „Das ist Emma. Emma ist erst zwei Jahre alt, aber Emma muss jetzt leider sterben. Weil wir Hunger haben!“
Kennt der Geladene einzig den Gastgeber, und den auch nur über Facebook, sorgt er sich zu Recht vor sozialer Vereinsamung auf der Party. Hier bietet es sich an, die Zunge schon zu Hause mit dem einen oder anderen Gläschen zu lockern. Manch Maulfauler erfährt mit zwei Promille erst die angenehmen Seiten zwischenmenschlicher Kommunikation.
Und sollte sich das Gespräch weniger angenehm gestalten, hat es der Gast am nächsten Morgen glücklicherweise wieder vergessen. Praktischer Tipp für Zwischendurch: Bevor ein Erbrechen auf die weiße Ledercouch droht, lieber ein Powernap im Bett des Gastgebers einlegen.
Eine besondere Herausforderung für den Partygast stellen Hochzeitseinladungen dar. Für die Eheleute endet der Abend im Idealfall mit einem Bund für das Leben. Für den unvorbereiteten Gast endet er allzu oft mit tödlicher Langeweile, zerbrochenen Freundschaften oder leidenschaftslosen One-Night-Stands. Deshalb sollte der Subtext der Einladung richtig gedeutet werden. Ist der Text betont spießig und langweilig gehalten, sind unbedingt anarchistische Elemente gefragt. Das ist im Interesse aller Anwesenden.
Dresscode Pornogrufti
Der Partygast von Welt ignoriert den Dresscode, denn dieser ist nur ein Zeichen fehlender Fantasie. Er skypt vielmehr vor der Feier verschwörerisch mit den anderen Gästen und verbreitetet den vermeintlichen Brautwunsch einer Kostümparty. Es sollten diverse Motti ausgegeben werden: Herr der Ringe, Bad Taste, Wintersport, Porno oder Grufti. Das sorgt für Gesprächsstoff und eine ungezwungene Atmosphäre.
Betont das Brautpaar in der Einladung, Spiele seien auf der Hochzeit keinesfalls erwünscht, dann kennen die Vermählten nur nicht die richtigen. Vor dem Abendmahl bereitet ein spritziger Contest im Eimersaufen Zerstreuung. Ein großer Spaß für alle Beteiligten ist es auch, spontan alle Exfreunde und Exfreundinnen der Brautleute einzuladen. Die müssen nun mit verbundenen Augen an der Körperform ertastet werden. Am besten nackt. Und wer weiß: Vielleicht entscheiden sich ja Braut oder Bräutigam doch noch um.
50 Shades of Shit
DJ Klaus ist gebucht, um den Hochzeitsgästen so richtig fetzig einzuheizen? Der gewissenhafte Gast bucht dazu die alte Punkrockband aus der Heimat, die weder singen noch Instrumente spielen kann und sich mittlerweile auf avantgardistische Liveperformances spezialisiert hat. Kunstblut setzt Farbakzente im weiß gehaltenen Festsaal. Zudem erfreut sich Großtante Frida an der Improvisation von „50 Shades of Shit“ und lässt sich dazu sogar auf die Bühne bitten.
Zwei Szenarien erfordern einen geordneten Rückzug vom Partygeschehen: Entweder ist der Alkohol alle, oder mehrere Gäste haben Prügel angedroht, da das unkonventionelle Auftreten eines Mitgastes mit ihrer bornierten Lebenswelt kollidiert. Im ersten Fall singt man als dezenten Hinweis den Alabama Song der Doors zum Abschied: „Well, show me the way to the next whiskey bar / Oh, don‘t ask why.“
Im zweiten Fall sollte unbedingt Gelassenheit demonstriert werden, indem man lässige Schattenbox-Kombinationen in die abgestandene Partyluft zaubert und mit einem „Farewell – ihr Loser!“ einen weltgewandt-sportlichen Abschied einleitet. Achtung: Nicht die Reste des selbstgeschlachteten Schweines vergessen – für den Kater danach.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus