Die Wahrheit: Alpine Blankärsche
Seit etwas über einem Jahr wandern einige Ostschweizer vorzugsweise nackt durch Wald, Feld und Flur. Bekannt wurde die Marotte nur, weil der Staat sich zu Interventionen bemüßigt fühlte.
Die zwei Halbkantone Appenzell Innerrhoden und Appenzell Außerrhoden - der erste mit katholischer, der zweite mit hauptsächlich protestantischer Bevölkerung - entschlossen sich, den Nacktwanderern mit Bußgeldern zu Leibe zu rücken. Die sittenstrengeren Katholiken verhängen Bußen von 200 Franken, die Protestanten begnügen sich mit der Hälfte, wenn Polizisten Nackte aufspüren im hügeligen Gelände.
Ein 46-Jähriger wurde im Kanton Appenzell Außerrhoden nackt erwischt, wollte aber die Buße von 100 Franken nicht bezahlen. Der Fall kam vor das Kantonsgericht. Als Verteidiger wählte er Konrad Hepenstrick, der in einer Talkshow im Schweizer Fernsehen unter dem Künstlernamen Puistola Grottenpösch Aufsehen erregte, weil er splitternackt auftrat.
Der Verteidiger bestritt die Vorwürfe der "groben Verletzung von Sitte und Anstand" bzw. "unanständigen Benehmens", die im appenzellischen Polizeirecht stehen. Diese schwammige Norm sollte dafür herangezogen werden, um nackte Wanderer zur Kasse zu bitten. Ein pikantes Detail: Der nackte Wanderer wurde vom christlichen Rehabilitationszentrum "Hope" aus beobachtet. Dieses Zentrum baute vor fast hundert Jahren der Architekt und Politiker Ernst Ulrich Buff. Der war jedoch nicht nur Architekt und Politiker, sondern auch Freimaurer, Atheist und Vorkämpfer für ein "naturgemäßes Leben". Der Volksmund sprach deshalb vom "Baare Födle Buff", was so viel heißt wie "Blankarsch Buff".
Für die Kantonsrichterin spielte diese volkstümliche Denunziation des Nonkonformisten keine Rolle. Sie ging ins Grundsätzliche und erklärte den Gummiparagrafen zu "Sitte und Anstand" im kantonalen Recht für nicht anwendbar auf den Tatbestand der Entblößung der Geschlechtsteile, denn "Delikte gegen die sexuelle Integrität" unterstünden nicht regionalen Anstandsvorstellungen oder kantonalem Polizeirecht, sondern einzig der Gesetzgebungskompetenz des Bundes. Der Nacktwanderer wurde freigesprochen.
Die appenzell-außerrhodische Staatsanwaltschaft hat damit die Möglichkeit, den Fall vom Kantonsgericht ans höchste Bundesgericht weiterzuziehen. Ein Sprecher kündigte bereits an, dass sie dies tun werde, falls "die Urteilsbegründung auf einen Freipass" hinauslaufe, "nackt herumzuwandern" in den Voralpen. Damit wird die eher skurrile Bagatelle zum Gegenstand der straf- und staatsrechtlichen Spitzenklöppelei vor dem Bundesgericht.
In der angelsächsischen Gerichtssprache geben Einzelfälle den Namen her für die handwerklich mustergültige und verbindliche Subsumtion eines Tatbestands unter die richtigen juristischen Normen. Dieser Brauch existiert in der Schweiz nicht, sonst hätte der Fall große Chancen, unter dem blankärschigen Namen "Baare Födle Buff" für immer in die voralpine Rechtsgeschichte einzugehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid