Die Wahrheit: Heavy Hildesheim
Wieder so ein Datum zum Merken. Am 22. Juni 2010 wurde der erste Tag des Sonisphere Festivals in Sofia via Satellit an ein paar hundert ausgewählte Kinos...
...in 34 Ländern weltweit gesendet, um allen Old-School-Thrashern noch einmal die Gelegenheit zu geben, dabei zu sein, wenn "The Big Four", also Anthrax, Megadeth, Slayer und Metallica, gemeinsam auf der Bühne ständen. So eine Mischveranstaltung aus dreckigem Live-Konzert und gediegenem Kino-Abend gab es noch nicht. Und mein Metal Brother Helge und ich, wir können sagen, wir sind dabei gewesen. Im Thega Filmpalast in Hildesheim. Uns wurde ganz mulmig zumute vor lauter Historie.
Es war dann aber doch nur der Hunger. Und so gingen wir erst mal zum Türken um die Ecke, ließen uns eine Pide mit Hack kredenzen. Backblechgroß. Jede. Und der Angstschweiß stand uns sogleich auf der Stirn, denn ein Pufferschmied aus Stambul interpretiert halbvoll zurückgegebene Teller nur allzu gern als verletzte Gastfreundschaft.
Der anschließende Verdauungsspaziergang hin zur Spielstätte war somit dringend nötig. Auf den Stufen des Filmpalasts hatten es sich Metalheads bequem gemacht. Helge zählte durch. Es waren fünf. Vier Kutten und ein hochwasserhosiger Nerd mit Pullunder, offenbar der kleine Bruder von einem. "Vermutlich ausverkauft", erklärte Helge. "Die sitzen hier nur, weil sie in diesem verwarzten Katholenkaff nicht wissen, wohin." Glücklicherweise hatten wir uns einmal mehr erfolgreich auf die Gästeliste antichambriert, nahmen die Freikarten entgegen und begaben uns zum geräumigen Vorführraum. Dort hatten sich schon gute zwölf Thrash-Opis eingefunden. "Wenn ich hier wohnen müsste", meinte Helge kopfschüttelnd, "ich würde Hildesheim nicht unbedingt beim Wettbewerb ,Metal-Hauptstadt des Jahres' anmelden."
"Hoffentlich hat sich Kirk Hammett nicht wieder so schwul die Augen geschminkt, Karneval war nämlich schon", meinte ein älterer Herr, dessen Gemetzel-Motiv auf der Brust im schönen Kontrast stand zu den Bügelfalten auf den T-Shirt-Armen. Er gab sich dann als so eine Art Bezirksgruppenleiter der Slaytanic Wehrmacht zu erkennen, dem Fähnlein Fieselschweif für die ganz Harten.
Bei den alten Haudegen wurden jetzt Erinnerungen an die sagenhafte "Clash of the Titans"-Tour von 1990 mit Slayer, Megadeth, Testament und Suicidal Tendencies wach. "Ich hab die in Bremen gesehen", behauptete ein anderer schlecht gealterter Metaller. "Ach sooo, dann waren die gar nicht in Hildesheim?", warf Helge ein, und sein wildes Grimassieren zeigte die Mühe an, die es ihm machte, den Heiterkeitsausbruch zu unterdrücken. "Das Package damals hat die Stadt dem Erdboden gleich gemacht", nickte sein Gegenüber weihevoll. "Die gibts seitdem gar nicht mehr. Was ihr als Bremen kennt, ist was anderes."
Aber da ging es auch schon los. Wir kuschelten uns behaglich in die Sessel und erfreuten uns an den vielen Plastikplanen und Regenmänteln, mit denen sich die Festivalgäste vor den widrigen Witterungsbedingungen schützen wollten - und nicht konnten.
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