Die Wahrheit: Gib mir die Kugel!
"Jeden Tag kann der Tod nach ihnen greifen", ist der Bericht über menschliche Kanonenkugeln überschrieben. Mit wohligem Schauer las der junge Leser im "Großen Jugendbuch"...
...von 1960 über lebende Lufttorpedos, die sich 60 Meter weit durch die Luft schießen ließen.
Ganz vorn flog eine Artistenfamilie mit dem passenden lautmalerischen Namen Zacchini. Zu Tode sollte bis dato noch keiner gekommen sein, doch bei ihrem gefährlichen Beruf trugen wohl alle Zacchinis mehr oder minder schwere Verletzungen davon.
Beredtes Zeugnis davon gibt die Schilderung der Vorbereitungen für einen Abschuss: "Einer der älteren Zacchinis humpelt durch die Manege zur Kanone. Er hat sich in früheren Jahren zu viele Knochen gebrochen, um noch als Granatenmensch mitmachen zu können."
Schwer atmend setzt sich der alte Zacchini an die Abschussschalttafel und feuert ein jüngeres Familienmitglied ins federnde Fangnetz. Die Zacchinis kannten selbstverständlich noch alle Kanonenkugelmenschentricks: Das Einsprühen mit Talkumpuder und der wirkungsvolle letzte Dialog vor dem Abfeuern: "Sei pronto?" - "Pronto!", antwortet eine dumpfe Stimme wie aus dem Grabe.
Und dem Grabe waren alle menschlichen Kanonenkugeln allerdings tagtäglich nahe, man schätzt, dass circa 30 Artisten von den etwa 50, die jemals als Kanonenkugel arbeiteten, bei ihrem riskanten Flug zu Tode kamen.
Die ersten menschlichen Lufttorpedos waren eher feminin: In New York ließ sich 1873 ein junger Mann mit sehr weiblichen Zügen namens Lulu auf ein Trapez schießen, und in Europa wurde die 14-jährige Rosa Matilda "Zazel" Richter als Erste durch die Luft gefeuert.
"Frauen und Kinder zuerst" war immer gern die Devise der menschlichen Kanonenkugel-Innung, denn Frauen, Kinder und Zwergwüchsige sind leichter, kleiner und kompakter als Männer und fliegen deshalb weiter. Vittoria Zacchini galt als das beste lebende Geschoss der Familie überhaupt, sie wurde wegen ihres graziösen Fluges auch "Der weiße Reiher" genannt.
Im Gegensatz zur anmutigen Vittoria galt Mary Connors in den siebziger Jahren als Sexbombe unter den menschlichen Kanonenkugeln. Von ihr wird berichtet, dass sie leicht bekleidet durch die Luft schoss, wobei ihr Oberteil des öfteren während des Fluges aufgegangen sein soll.
Die berühmteste weibliche Kanonenkugel des 20. Jahrhunderts aber war die blonde Duina Zacchini, die gemeinsam mit ihrer ebenso schönen wie dunkelhaarigen Schwester Egle durch die Varietes und Zirkuszelte der Welt sauste. Duina flog bis auf das Cover des Time Magazine und in einige Hollywood-Filme.
Schließlich wurde sie sogar von der Weltraumbehörde Nasa eingeladen, die erste weibliche Astronautin zu werden, was allerdings eher ein Werbegag der noch neuen Nasa war.
Doch eigentlich sind die Vorführungen der menschlichen Kanonenkugeln eine Sache für die ganze Familie, sowohl vom Publikum her als auch für die Luftreisenden. Nachdem sich der Zacchini-Clan zur wohlverdienten Ruhe gesetzt hatte, übernahmen die Smiths die Lufthoheit.
David Smith war ein ehemaliger Mathematik- und Turnlehrer und fand etwas Besseres mit seiner Betätigung als menschliche Kanonenkugel. Mit satten 56,54 Metern wurde er Weltmeister im Kanonenkugelweitflug.
Sein ehrgeiziger Sohn, David Smith jr., sollte ihn sogar noch übertreffen: Weltrekord mit 58 Metern! Stephanie Smith traf es nicht so gut, sie verfehlte im Jahr 2006 das weiche Landekissen und verletzte sich dabei. Vermutlich humpelt sie jetzt zur Abschussschalttafel wie weiland der alte Zucchini und schießt ihre kleinen Brüder wütend ins Fangnetz.
Sogar bei Dieter Bohlens Talentwettbewerb versuchte sich ein weiblicher Shooting Star als Supertalent: Robin Valencia, die seit 20 Jahren als professionelle Kanonenkugel durch die Luft fliegt. Auf die Frage, was sie denn sonst noch könne, antwortete sie wahrheitsgemäß, sie wäre "quite limited". Ob die in ihren Fähigkeiten Limitierte wohl in der nächsten Runde rausfliegt?
Mit dem fantastischen Weltrekord von David Smith jr. hätte 2011 ein großes Jahr für menschliche Kanonenkugeln werden können, aber wenig später kam in Südengland ein Stuntman ums Leben, weil das Auffangnetz wegsackte.
So hatte sich wieder einmal traurig bewiesen, wie gefährlich unsere tollkühnen Lufttorpedos leben, denn der Tod fliegt immer mit!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann