Die Wahrheit: Blutjunge Breireste
Von der Aufdringlichkeit, die Allgemeinheit mit Bilderfluten von Säuglingen in sozialen Netzwerken zu nerven.
Man kann es drehen und wenden, wie man will. Die vormalige Regierungspartei SPD hat sich in letzter Zeit nicht mit allzu großen Portionen Ruhm bekleckert.
Umso angenehmer, dass deren Vorsitzender Sigmar Gabriel dieser Tage mit einer ebenso klugen wie sympathischen Aussage dem gesunden Menschenverstand schmeichelte. Zwar verkündete Gabriel unlängst die Geburt seiner jüngsten Tochter via Facebook, erklärte aber gleichzeitig sinngemäß, dass es dort weder Fotos der blutjungen Dame zu sehen noch Berichte über die schönsten Spaziergangserlebnisse mit ihr zu verfolgen geben wird.
Denn machen wir uns nichts vor: Die Liste ist lang, und sie wird täglich gnadenlos verlängert. Auf nahezu jedem neuen in sozialen Netzwerken veröffentlichten Bild sieht man Kleinstkinder mit unterschiedlich farbigen Breiresten um den Mund.
Man sieht sie wahlweise mit einem von Elternseite auf Biegen und Brechen „Ach-wie-süß“-Kommentare einfahren wollenden beschrifteten T-Shirt odereiner vermeintlich lustigen Kopfbedeckung wie einem Piratenkopftuch oder einem Palästinenserfeudel („Unser kleiner Terrorist“) oder einer naturgemäß viel zu großen Sonnenbrille oder aber auch gänzlich ohne jegliche Devotionalien, sondern einfach nur vor den unterschiedlichsten Freizeithintergründen lächelnd, weinend, lachend nach links, rechts, oben oder unten schauend. Gern wird das hilflose Kind aber auch, gleich einer Art Wanderpokal, willigen Personen fürs Foto in den Arm gepresst.
Diese Bilderflut wird garniert mit den inflationären, schon längst zur nervigen Routine verrutschten „Gefällt-mir-Klicks“ der virtuellen Freunde und den spätestens mit dem Erreichen der gefühlten Tausendermarke nur noch mäßig originellen Kommentaren der Eltern des Kindes.
Denn wenn Papa allabendlich im Stundenrhythmus ein neu arrangiertes Bild veröffentlicht, wird das natürlich umgehend von der in diesem Moment neben ihm auf dem Sofa sitzenden Mutter auf deren eigenem Laptop kommentiert beziehungsweise je nach Verursacher eben andersrum.
Nun ist es ebenso verständlich wie grundsympathisch, dass Eltern die Geburt ihrer Kinder bejubeln und ihre Freude über die erbrachte Niederkunftsleistung der ganzen Welt freudig erregt entgegenschreien möchten.
Man kannte das auch bereits früher von „Baby an Bord“-Autoaufklebern, die aufkleberlose Fahrer ermahnen sollten, einmal ausnahmsweise nicht, wie ja sonst üblich, grundlos hupend oder anderweitig krakeelend haarscharf rechts zu überholen und dergestalt das an Bord befindliche Kleinkind anonym zu erschrecken. Eine Übung, die sich naturgemäß nicht annähernd in die virtuelle Welt übertragen lässt.
Was aber treibt all die frisch gebackenen Eltern dazu, zum Leidwesen unaufgeforderter Dauerzeugen jede noch so profane Situation ihres Kindes der Öffentlichkeit preiszugeben? Das Kind persönlich kann selbstverständlich am allerwenigsten für die unübersichtlichen Aktionen seiner Eltern, ahnt es doch noch nicht, was da mit ihm getrieben und hinter seinem Rücken kompensiert wird.
Ein Umstand, der sich aber spätestens mit der Pubertät ändern wird, wenn es mit Gleichaltrigen in angestaubten Facebookarchiven stöbert und auf jene Bilderflut biblischen Ausmaßes aus seinen Säuglingstagen stößt. Wobei sich allerdings die Frage stellt, ob die Paparazzi-Eltern der ohnehin komplett desinteressierten Allgemeinheit nicht auch noch schonungslos die späteren Jahre des Kindes aufdrängen. Wann also hört der penetrante Wille der Eltern zur Vorführung und Zurschaustellung auf? Man weiß es nicht. Noch nicht.
An dieser Stelle mag man gar nicht an hoffentlich niemals auftauchende Bildunterschriften des Kalibers „Shania-Janines erste Periode“ oder „Justin-Marcels niedliche Erektion“ denken. Doch etwas Gutes haben derlei Aktionen dann doch: Wenn das Kind später einmal eine schwere Straftat begeht, kann es zumindest aufgrund unzähliger dokumentierter Motive sicherlich mit mildernden Umständen aufgrund des familiären Umfeldes rechnen.
Deshalb scheint die diesbezügliche Verweigerung Sigmar Gabriels, Babyfotos zu veröffentlichen, nicht zuletzt eine Investition in die spätere eigene Sicherheit zu sein. Und der Entscheidung gebührt ein doppelter Glückwunsch.
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